Ein Schlangenschicksal Von Falko Hennig

Ich weiß nicht, ob es euch auch so geht. Aber ich kann eigentlich darauf wetten. Immer in der Schlange, in der ich stehe, und zwar immer kurz bevor ich dran bin, da passiert was.

Ich habe mal eine Liste gemacht, die Erlebnisse einiger Monate bei Kaiser's. Ich schaue schon immer genau, wer da so in einer Schlange steht. Alte verwirrte Frauen, dicke rotgesichtige Männer mit Schürfwunden unbedingt vermeiden! Wie diese Mütterchen dann in ihren Täschchen zu kramen beginnen; das hundertfache über die Kaufhallenlautsprecher ausgerufene „Storno!“ gellt mir in den Ohren. Die rotgesichtigen Männer, wie sie auf den Preis starren. Wie sie dann unentschlossen die Kassiererin anglotzen, dann wieder den Preis, wieder die Kassiererin.

Innerhalb von zweieinhalb Monaten: drei ungültige EC-Karten; zwei Verwirrte; ein Mann und eine Frau, die äußerlich ganz normal aussahen und einfach stehen blieben, keinen Ton sagten und nach einer halben Stunde von der Polizei abgeholt wurden; eine fein gekleidete mittelalte Dame, die begann, alle Flaschen auf den Boden zu werfen, eine nach der anderen, und sie hatte viele Flaschen. Dann war da noch der Punk, der einen 5.000-Mark-Schein gewechselt haben wollte und einfach nicht wegging, als die Kassiererin ihm sagte, daß sie alle nicht soviel hätten, nicht mal alle Kassen zusammen.

Wenn der Ruf „Storno!“ erschallt, dann dauert es zirka zehn Minuten, bis der Kaufhallenleiter erscheint, dann wird die Kasse aufgemacht und irgendwas verändert, und ich stehe da und warte, ich bin schon ziemlich abgeklärt. Es dauert Ewigkeiten, manchmal brauchen sie noch andere Kassiererinnen, manchmal muß der Kaufhallenleiter etwas mit seinem Funktelefon nachfragen. – Das alles sind nur Beispiele von meiner zweieinhalb Monate geführten Liste.

Neulich zur Wahl, ich ging rein in diese Schule, sie machen die Wahllokale ja meist in den Schulen. Jedenfalls finde ich mein Zimmer, eine Schlange steht da. Ich stelle mich an. Es geht halbwegs zügig.

„Haben Sie einen Ausweis bei?“ höre ich die Dame den vor mir fragen.

„Nein“, sagt der und fängt an, sich die Jacke auszuziehen, „aber gucken Sie mal hier!“ Er zieht sich auch noch sein T-Shirt aus. „Hier, diese Narbe!“

Die Frau bleibt ganz ruhig: „Es tut mir leid, aber eine Narbe reicht als Identifikation nicht aus.“

Der Mann wird jetzt etwas aufgeregter und kramt in seiner Umhängetasche. „Hier!“ sagt er und zeigt eine schwarze Karte: „Das ist ein Röntgenbild von meinen Zähnen. Das muß doch gehen, oder?“

Bis ans Ende meiner Tage, kein Zweifel. Da wird diese wichtige Operation sein, Routinesache eigentlich, Blinddarm. Ich liege im Gang auf der Bahre mit diesem merkwürdigen Operationshemd an, das sie haben. Gleich sind sie fertig mit meinem Vorgänger, da höre ich Geschrei. Blut spritzt gegen die Milchglasscheibe an der OP-Tür. Der Chirurg schreit: „O mein Gott!“, eine Schwester stürzt aus dem Saal, kreidebleich.

Dann, mein Gesicht ist spitz und weißlich-gelb wie Wachs, ich liege im Krematorium, sie schieben die Leiche vor mir rein. Ich höre den Heizer fluchen: „Verdammt!“ Ich fasse mich in Geduld, ich kann warten.