Carte blanche für Rußlands Faschisten

■ Angesichts einer wachsenden Bedrohung durch die Faschisten wollen sich die Demokraten neu formieren. Mit wenig Erfolg

Moskau (taz) – „Nach dem Tod Galina Starowojtowas sind wir in einem anderen Land aufgewacht“, meinte die ehemalige Duma-Abgeordnete und Ministerin Irina Chakamada am Rande der Trauerfeierlichkeiten für die am Freitag ermordete Politikerin in St. Petersburg. Es waren nicht Trauer und Wut, die der Ministerin diese Worte in den Mund legten. Während sich ein zehntausendköpfige Menge von der gemeuchelten Menschenrechtlerin verabschiedete, demonstrierten in Moskau vor dem Gebäude der Staatsduma Anhänger faschistischer Schwarzhundertschaften. Ihren Namen haben sie den antisemitischen Terroreinheiten der Jahrhundertwende entlehnt. „Ihr jüdischen Faschisten, auf euch wartet ein russisches Nürnberg!“ drohten Transparente. Der kommunistische Abgeordnete und Rassenhetzer General Albert Makaschow wurde zum sofortigen Handeln aufgefordert: „General Makaschow, zermalme das Scheusal, sonst sind wir Russen verloren!“

Die Moskauer Behörden hatten die Demonstration erlaubt. Weder Regierung, Duma noch die Moskauer Bürgermeisterei sahen einen Grund, einzuschreiten. Inzwischen, kommentiert die Nowyje Iswestija, fühlten sich Faschisten auf den Straßen Moskaus sicherer als Anhänger liberaler Überzeugungen. Etwa 2.000 hatten sich zum Gedenken Starowojtowas auf dem Puschkinplatz in Moskau versammelt. Eine bescheidene Zahl im Vergleich zu den Demonstrationen Anfang der 90er Jahre. Dennoch war es die größte Zusammenkunft demokratisch gesinnter Bürger seit langem in Moskau.

Die Spaltung der Gesellschaft spiegelte sich auch auf der Trauerfeier in St. Petersburg wider. Hochrangige offizielle Vertreter aus Staatsapparat und Parlament erschienen nicht. Premierminister Jewgeni Primakow traf mit Amtskollegen aus der GUS zusammen. Duma-Vorsitzender Gennadi Selesnjew hielt es für wichtiger, dem Turkmenbaschi in Turkmenistan einen Besuch abzustatten.

So gab die verantwortliche Elite Moskaus eine beschämende Vorstellung. Was läßt sich da von dem einfachen Bürger erwarten? In ihrem letzten Interview in Argumenti i fakti hatte Starowojtowa gewarnt, Tatenlosigkeit und Hilflosigkeit der Verantwortlichen könnten Rußland in ein faschistisches Regime verwandeln. Jetzt „sind demokratische Institutionen gefordert, starke Barrikaden zu errichten.“ Russischen Politikern fehle es an zwei Dingen: „Gewissen und Verstand“.

Unterdessen bemühen sich Funktionäre zentristischer Organisationen und des liberaldemokratischen Flügels, eine Allianz gegen die rotbraune Revanche zu schmieden. Bisher mit mäßigem Erfolg. Für nächste Woche sagte Anatoli Tschubais eine Einigung voraus. Die radikaldemokratische Oppositionspartei Jabloko lehnte ein engeres Bündnis ab. Der Vorsitzende von Unser Haus Rußland, Alexander Schochin, bekräftigte, längerfristig eine lockere Koalition aus der linkszentristischen Sammlungsbewegung des Moskauer Bürgermeisters Luschkow, „Otetschestwo“, Unser Haus Rußland, den liberalen Demokraten um Jegor Gaidar und selbst Jabloko aus der Taufe heben zu können. Dann hätte man bei den Wahlen im nächsten Jahr Chancen, eine Mehrheit zu bekommen. Hier scheint jedoch der Wunsch Vater des Gedankens zu sein. Klaus-Helge Donath