„Schattenwirtschaft orientiert sich am Weltmarkt“

■ Wesentlich lebensfähiger als die legale Wirtschaft in Rußland könnte die illegale sein

Ljew Timofejew ist Inhaber des weltweit ersten Lehrstuhls für Schattenökonomie in Moskau.

taz: Hat Ihnen der Artikel von Gaddy und Ickes Spaß gemacht?

Ljew Timofejew: Ja. Sie liefern ein geistreiches, lakonisches Modell. Dabei verschweigen sie allerdings einige ihrer Prämissen. Wie zum Beispiel bestimmen die beiden eigentlich den Wert der russischen Industrieerzeugnisse? Sie gehen davon aus, daß dieser in der Regel ein Drittel der offiziellen Preise beträgt. Natürlich sind diese Preise illusorisch, weil sie nicht auf dem Markt entstehen. Der wirkliche Wert dürfte aber von Fall zu Fall sehr verschieden sein, er kann auch mal über dem Preis liegen.

Die Schattenwirtschaft spielt in dem Modell kaum eine Rolle.

Dabei liegt ihr Anteil nach den allerbescheidensten Schätzungen heute bei 40 Prozent des russischen Bruttozozialproduktes! Die legale Wirtschaft ist „virtuell“, weil sie sich nach den – ebenfalls virtuellen – Gesetzen des Staates richtet. Für die Schattenwirtschaft besteht dagegen das erste Gesetz im ökonomischen Interesse ihrer Akteure. Da werden die Preise in Cash bemessen und orientieren sich am Weltmarkt.

Droht dem russischen Volk wirklich eine Katastrophe, falls die offizielle Wirtschaft zusammenbricht?

Wir Russen haben eine erhöhte Toleranzgrenze beim Verdauen von Krisen. Und dazu, daß das alte System von heute auf morgen zusammenbricht, kann es einfach gar nicht kommen. Es wird sich ganz langsam ändern. Nehmen wir zum Beispiel das Verhältnis zum Eigentum, es hat sich durch die Schattenwirtschaft schon radikal verändert.

Die Schattenwirtschaft als „reale“ Ökonomie reift also als Lebenshoffnung Rußlands im Bauch der alten Ordnung heran?

So ist es. Was uns heute stört, ist vor allem unsere Legislative. Zuerst bräuchte das Land neue Gesetze und ein neues Steuerrecht, das den lebensfähigen Teil unserer Wirtschaft nicht mehr in die Illegalität drängt. Danach würden auch Wirtschaftshilfe und Kredite aus dem Westen wieder sinnvoll. Sie dürften nicht dem bürokratischen Staatsapparat zugute kommen, sondern konkreten Unternehmern für konkrete Projekte. Interview: Barbara Kerneck