Medizin, Volksnahrung, Droge

November, übelster der dunklen Monate. Depressionen nahen. Rettung gibt es. Schokolade zum Beispiel. Neben Sex und Alkohol gehört „Chocolatl“ zu den wichtigsten Instrumenten, um unseren Serotoninspiegel aufzufrischen. Eine kleine Warenkunde soll allen Junkies bei der Stoffauswahl helfen  ■ Von
Wolfgang Abel

Kennzeichen guter, edelbitterer Schokolade: hartes Knacken, zarter Schmelz. Für beide Merkmale ist die Kakaobutter verantwortlich, aus der Kakaobohnen zu einem Drittel bestehen. Das geschmeidige Fett, dessen Schmelzpunkt dem der Körperwärme nahe kommt, ist auch in anderen Branchen begehrt. Die Kosmetikindustrie setzt Kakaobutter – deren Handelswert viel höher liegt als der anderer Pflanzenfette – als Träger in Cremes und Lippenstiften ein.

Der wertvolle Stoff in der Schokolade soll mehr und mehr durch einfache Pflanzenfette und Milchbestandteile ersetzt werden. Aber auch am Kakao selbst wird gespart. Zucker ist ungleich billiger, deshalb bestehen einfache, helle Schokoladesorten zur Hälfte aus Zucker und nur zu einem Bruchteil aus Kakao.

Bei den edelbitteren Qualitäten liegt der Kakaogehalt dagegen zwischen 55 und 75 Prozent. Liegt der Kakaogehalt unter 50 Prozent, schmeckt Schokolade viel zu süß; bei einem Anteil von über 85 Prozent wird Bitterschokolade schier ungenießbar. Bei allen Spitzenqualitäten ist jedoch der natürliche Anteil an Kakaobutter enthalten. Deren Kristallstruktur sorgt beim Brechen für den typischen trockenen, satten Ton und beim Verzehr für Gaumenfreude statt Klebrigkeit.

Wie andere Nahrungsmittel hat sich auch die Schokolade erst mit der Zeit von der Medizin über das exklusive Genußmittel zum Volksvergnügen entwickelt. Die Cadburys und Rowntrees waren Quäkerfamilien, die das Schokoladengeschäft im großen Stil aufzogen. Wobei die Demokratisierung ihrer Produkte zugleich als Kampagne gedacht war. Die billige Schokolade wurde als gesunde Alternative zum Alkoholmißbrauch propagiert.

Anfangs wurden Schokolade und Kakao von den Europäern noch als Schweinefutter angesehen. „Chocolatl“ oder Kakaowasser nannten die Azteken ihre Erfindung, einen mit Paprika versetzten Kühltrank von scharfem und bitterem Geschmack. Erst als man die Paprikawürze beseitigte, Zucker zusetzte und mit kochendem statt kaltem Wasser den Grundcharakter veränderte, schmolzen die Vorbehalte dahin. 1615 kam die Schokolade nach Frankreich, 1657 wurde in London die erste Schokoladenschenke eröffnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Schokolade zum Massenprodukt.

Wie so oft beflügelt die fortwährende Banalisierung eines Produktes aber auch eine Gegenbewegung. Die französische Edelschmelze Valrhona führte 1986 die erste „Grand Cru“- Schokolade ein – eine sortenreine Komposition namens „Guanaja“, die ausschließlich aus südamerikanischen Kakaobohnen hergestellt wird. Wenig später folgten weitere reintönige Schokoladen wie „Pur Caraibe“ und „Manjari“. Damit waren Referenzprodukte geschaffen. Renommierte Hersteller geben den Kakaogehalt ihrer Schokoladen mittlerweile so präzise an wie Weingüter die Rebsorten ihrer Spitzencuvées.

Für exzessive Qualität bei der Weiterverarbeitung von Schokolade steht die Zürcher Confiseriedynastie Sprüngli: Sie brachte zu Beginn der neunziger Jahre den Schokoquader „Number One“ auf den Markt. Sein Name ist Programm: „Truffes du jour“ sind tatsächlich nur einen Tag alt, die legendären Luxemburgerli dürfen höchstens drei Tage im Laden liegen. Verwendet wird Vorzugsbutter statt Kochbutter, Vollrahm statt Halbrahm. Auf außerkantonale Filialen wird wegen eventueller Qualitätseinbußen beim Transport verzichtet. Aber gleich ob Zürich-Kloten oder Zürich-Hauptbahnhof – unweit der Bankschalter fällt immer auch Sprünglis Schoggitresen ins Auge.

Kurze Wege vom Konto zur Konditorei. Wobei das süße Geschäft mit derselben diskreten Perfektion betrieben wird wie die Kapitalverwaltung. Die Öffnungszeiten von Sprünglis Bahnhofs- und Flughafenfilialen erinnern an die eines Apothekennotdienstes. Sprüngli läßt seine Junkies nicht im Regen stehen.

In Zürich gibt Konkurrent Teuscher die Rolle des schleifchenfreudigen Verpackungskünstlers. Verglichen mit Teuschers barockem Auftritt, der ein wenig an ein Galanteriewarengeschäft erinnert, wirkt Sprünglis calvinistisch karg ausgestattetes Stammhaus am Paradeplatz wie eine amtliche Ausgabestelle für Süßwaren. Dennoch kommen weit über 2.000 Kunden täglich – wie es sich für einen weltweit bekannten Wallfahrtsort gehört.

Daß Schokolade nicht nur dick, sondern auch glücklich machen kann, ist mittlerweile bekannt. Wahre Schokoladenliebe beschränkt sich aber nicht nur auf die euphorisierende Wirkung. In einem fortgeschrittenen Stadium der Hingabe bilden Schokoladen-, vor allem aber Pralinenfreunde mitunter bizarre Vorlieben aus.

Einer wählerischen Katze ähnlich, suchen sie manche Plätze nur in spezieller Stimmung oder einer bestimmten Sorte wegen auf. Auf einer weiteren Stufe der Abhängigkeit, die sich nicht mehr rein stoffgebunden zeigt, wird eine Confiserie allein wegen ihres Duftes zum Ziel. In Frage kommen indes nur Geschäfte mit reinrassigem Sortiment, die heute nicht die Regel sind. Immer mehr Betriebe von Rang servieren über Mittag auch warme Lunchteller, eine Sitte, die den wonnigen Duft einer Confiserie und damit auch die Vorfreude des Abhängigen zerstört.

Beim Verschenken von Schokolade und Pralinen sollte beachtet werden, daß sich mit Konfektionsware und Schogettenmischungen allenfalls Tanten entfernteren Grades abspeisen lassen. Fortgeschrittene Schokoladenfreunde sind meist auch Synästhetiker: Menschen, die Formen und Stimmungen schmecken können. So könnte sich eine glatte, kühle Marmorsäule anfühlen wie Pefferminzgeschmack. Nach einem Spaziergang durch dunkles Herbstlaub kommen eigentlich nur schwere, dunkle Mokkatrüffeln in Frage. Führt der Weg durch eine Pappelallee, wären auch Champagnertrüffeln denkbar.

Von unserem Autor Wolfgang Abel erschien zuletzt das Büchlein Badische Küchenkunde – Einkaufen, Küchenwissen, Rezepte, eine Waren- und Genußkunde (Oase-Verlag, Badenweiler 1998, 250 S., 29 Mark)