Einbürgerung auf dem Schaukelpferd

■ Exakt vor 100 Jahren kamen Osteuropäer nach Bremen für die Jutefabrikation: Auch ein Jubiläum – und ein frühes Beispiel für gelungene Ausländerintegration, dokumentiert von der Geschichtswerkstatt Brodelpott

Eine alltagspraktische Frage: Ein Mann wird jeden Sonntag morgen angefallen vom seltsamen Gelüst, sich kultiviert zu betrinken. Wie kann er die unausweichlichen Schimpforgien seiner Ehefrau vermeiden? Ganz einfach. Er wählt zum Zwecke des Besäufnisses eine Kneipe in Rufweite zur nächsten Kirche, paßt auf dem Heimweg Kirchenbesucher ab, befragt sie nach dem Inhalt der Predigt und schwärmt vor seiner zuhause gebliebenen Angetrauten von der Erhabenheit seines Kirchgangs. Solch nützliche Anekdoten findet man natürlich nicht in Geschichtsbüchern, aber bei den Diavorträgen des „Brodelpott“. Zum Beispiel zum Thema „Jute-Fabrik und 100 Jahre St. Marien-Gemeinde“. Die nahegelegene Kneipe nannte sich übrigens trutzig „Marienburg“.

Vor 20 Jahren keimte allenorts die Idee der oral historie. Damals war Walle noch kulturelle Diaspora. Und so bemühten sich seit 1982 auch hier Studenten, die Kluft zur „normalen“ Bevölkerung zu überspringen, indem sie sich ganz einfach das erzählen ließen, was kaum eine Unibibliothek zu lehren vermag: Alltagsgeschichte. Mit brodelndem Tee in Pötten konnten Berührungsängste schnell hinweggespühlt werden. Hunderte von Wallern öffneten Herzen, Münder und die Fotoalben ihrer Tanten und Opas. Mindestens ein Altwaller konnte hier seine Kriegstraume zum ersten Mal formulieren und ein Stück weit bewältigen. Und selbst aus Amiland strömte Bildmaterial von Ex-Wallern herbei. So wurde der „Brodelpott“ neben den Kulturläden Pusdorf und Wolmertshausen zu Bremens wichtigstem Archiv für Stadtteilgeschichte. Im „Erzähl-Cafe“ von Carola Menzel und Ulrike Vogt erzählen allmonatlich VIPs und Normalos, Waller Marktfrauen, LehrerInnen, ArchitektInnen, Straßenbahnschaffner etc. vor etwa 40 Zuhörern vom Arbeitsalltag früherer Tage.

Cecilie Eckler-von Gleich, eine von zwei fest angestellten Brodelpottlerinnen, ist die Herrin über 5.600 Fotos und Postkarten. Sie dokumentieren die Geschichte des Hafens, der Erziehungseinrichtungen, des Schiller-Theaters, des Decla-Kinos oder den Zustand der Straßen vor der großen Bombardierung vom August 1944. Diese Schätze werden zweifach ausgewertet. Sie bebildern eine Serie von Geschichtsbüchern des Temmen-Verlags und locken allmonatlich 100 bis 300 Waller BürgerInnen zu einem Diavortrag im Kino 46: Vielleicht entdeckt man ja das eigene Geburtshaus. Außerdem können Urwaller jeden Freitag vormittag in den Räumen am Steffensweg vorbeischauen, um hier der eigenen Vergangenheit ins Auge zu sehen. Vielleicht werden es Fotos aus dem Brodelpottarchiv sein, die eine spätere Generation die Zuschüttung von Teilen des Überseehafens bitter bedauern lassen.

Der letzte Dia-Vortrag widmete sich einer ganz speziellen Verquickung von kirchlichem und kapitalistischem Treiben: Die Einwanderung von katholischen OsteuropäerInnen für die Jutefabrikation war es, die vor 100 Jahren zur Gründung der Gemeinde St. Mariens führte. Polen, Tschechen, Ungarn, aber auch Deutsche aus den böhmischen Gebieten Österreich-Ungarns oder aus dem thüringischen Eichsfeld verdingten sich schon seit Längerem als Torfstecher oder Erntearbeiter in Norddeutschland. Ausgerechnet für die kalten Wintermonate erlosch ihre Aufenthaltsgenehmigung.

Als 1888 der Bremer Freihafen eröffnet wurde und die Jutefabrik eine ganzjährige Beschäftigung versprach, wagten etliche von ihnen die dauerhafte Ansiedelung fern der Heimat. Die Einbürgerungsurkunde war eine Frage des Geldes. Etwa ein Jahr hatte man dafür hart zu sparen. Und so erwarb sich manche JutearbeiterIn ihren deutschen Paß erst nach 20 Jahren. Eine Säumigkeit, die manchen Tschechen zum Verhängnis wurde: Nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns wurden sie Knall auf Fall ins tschechische Militär eingezogen. Wohl nicht jede Ehefrau ging mit.

Die Bilder des Brodelpott erzählen von zeittypischen Gemenge aus Ausbeutung und Fürsorge. Schmucke Reihenhäuser mit Stuck stellten die backenbärtigen Fabrikherren ab 1905 ihrer Belegschaft zur Verfügung. Doch wegen geringem Verdienst teilten sich drei Familien ein winziges Haus. Zur Nordstraße hin präsentiert die Fabrikanlage eine prachtvolle Schauseite. Dahinter war's eng, laut, feucht. Teil der Schauseite war das Säuglings- und Kinderheim. Bei einem 70prozentigen Frauenanteil der Belegschaft eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Breite Treppen, Schaukelpferde und sogar eine Schaukel in hellen Räumen erzählen von unternehmerischem good-will. Der backsteinummauerte Garten aber riecht verdächtig nach Kasernengeist.

Über 600 Taufen zählte die katholische St. Marien-Gemeinde im Jahr 1913. Da dürfte gar manches Bremer Urgestein eine polnische Oma in der Ahnenreihe aufweisen. Ein Beweis, wie perfekt Integration funktioniert, wenn das Schaukelpferd, der Pfarrer und der Fabrikherr es nur wollen. Der Grund für dieses Wollen hieß Linoleum. Die Juteproduktion stieg mit dem Welthandel – Säcke wurden aus Jute gemacht – aber auch mit der Popularisierung von Linoleum. Im Delmenhorster Nordwolle-Fabrikmuseum sind die wunderbaren Musterentwürfe von 1904 des berühmten Architekten Peter Behrens für die „Anker-Linoleumwerke Delmenhorst“ zu bewundern. Die Waller Jutefabrik wurde in den 30er Jahren von der Nordwolle aufgekauft. Schon früher gab es Fusionen, schon früher zahlte der schwächere Partner in Krisenzeiten drauf. Walle schloß Ende der 50er Jahre, Delmenhorst wurstelte bis 1981 weiter.

Seit 12 Jahren lauscht Eckler-von Gleich nun schon den Erinnerungen älterer Menschen. Und manche werden über Jahre hinweg zu treuen Weggefährten ins Reich der Vergangenheit wie der ExTaxisfahrer und Ex-Polizist Hans-Günther Prigge.

Das veränderte das Geschichtsverständnis der Politologin. Die Angst in den Bombennächten versteht sie jetzt besser. Und auch, daß die individuelle Geschichte nicht selten stärker ist als die Weltgeschichte. Beim Jahr 1933 denkt eben so mancher weniger an die Machtergreifung als an seine Hochzeit. Oder an das kühle Bier an einem Sonntag vormittag in der Marienburg. Barbara Kern

Brodelpott, Steffensweg 155. Tel. 3962101. Das wunderschöne Foto-Text-Buch „100 Jahre St. Marien“ ist zu bestellen im Gemeindebüro Tel.: 383638.