Der kleine Fotograf

...und seine dünne Kapitaldecke  ■ Von Gabriele Goettle

Friedrich-Olbricht-Damm 69, Charlottenburg-Nord, das ist eine sehr schlechte Adresse. Es ist meine Adresse. Hier wohne ich. In diesem alten, häßlichen Haus. Früher diente es den Nazis als Fliegerkaserne. Heute sind wir die Flieger, die, die überall rausgeflogen sind. Hierher hat man uns verbannt. Ganz in der Nähe sind das Frauengefängnis, die Jugendstrafanstalt und die Gedenkstätte Plötzensee, wo sie die Widerstandskämpfer hingerichtet haben im Dritten Reich. Ohne diesen touristischen Anziehungspunkt wäre die Gegend hier ziemlich öde. Die Verkehrsverbindungen sind nicht gerade ideal. Ich bin ja viel in der Stadt unterwegs. Entweder ich fahre mit der U6 bis Westhafen und habe dann drei Kilometer Fußweg, oder ich nehme die U7, bis Jakob-Kaiser-Platz und steige umständlich in den 123er Bus um. Aber da mich andererseits nichts nach Hause zieht, kann ich mir ruhig viel Zeit lassen.

Der Anblick ist jedesmal aufs neue depremierend. Die Fliegerkaserne ist ein heruntergekommenes Gemäuer. Eng ist es auch. Und dann der Schmutz, unübersehbarer Schmutz überall. Alter Schmutz. Ein Belag an den Wänden, auf den Böden, im Waschraum, in den Toiletten, in den Fluren und Zimmern. Ich bekomme davon diese Geschwüre auf meinen beiden Handrücken. Wahrscheinlich ist es eine Allergie, aus Ekel. Vor den Geschwüren ekelt es mich auch. Kaum hat sich neuer Wundschorf gebildet, muß ich ihn abkratzen. Das ist wie ein Zwang. Heute sind meine Handrücken ganz besonders stark aufgeschwollen, das kommt daher, daß ich mich ärgern mußte. Aufregung bekommt mir gar nicht. Aber darauf nimmt man keinerlei Rücksicht. Ich wohne mit einem zweiten Mann zusammen. Das Zimmer ist klein. Man hat kaum Platz für die paar persönlichen Sachen, die man noch besitzt. So etwas wie ein Privatleben ist gar nicht möglich. Dabei habe ich mit all dem noch Glück gehabt, denn mein Zimmerkollege ist kein Alkoholiker, nur starker Raucher und Schnarcher. Das muß ich schlucken. Und ich schlucke es, obwohl ich selbst weder trinke noch rauche. Nicht einmal Schnarcher bin ich. Ich schlucke es, denn alles ist besser als ein süchtiger, grölender und stinkender Alkoholiker. Wer das nicht kennt, der weiß nicht, wovon ich rede. Ich weiß es. Ich habe es kennengelernt, bis hin zum Delirium, in das der damalige Zimmerkollege fiel. Das ist auch an mir nicht spurlos vorbeigegangen. Ich hätte nie gedacht, daß ich all das mal werde erleben müssen. Ich kam hier nach Berlin, in die Großstadt, und bin Stufe um Stufe hinabgefallen.

Vorher war ich ja im Ruhrgebiet. Ich hatte Arbeit und alles. Stand bei Opel am Fließband. Eines Tages haben sie fast unsere gesamte Abteilung entlassen. Wegen Modernisierung. Da half alles nichts. Aus! Die ehemaligen Kollegen sind in alle Winde zerstreut. Mich hat es zuerst nach München und dann hierher nach Berlin verschlagen. Es gab ja nichts mehr, was mich hätte halten können. Meine Mutter war tot, und meine Verlobte war tot. Ja, ich hatte eine Verlobte gehabt, auch wenn man mir das vielleicht heute nicht mehr ansieht, es ist wahr. Sie arbeitete als Sekretärin bei einem Rechtsanwalt. Wir wollten zuvor noch etwas Geld sparen für eine Wohnung und dann heiraten. Wir trafen uns regelmäßig, hatten schon Möbel ausgesucht. Eines schönen Tages wurde sie von einem Auto erfaßt und an der Hauswand zerquetscht, mitten auf dem Gehsteig. Das hat sie natürlich nicht überlebt. Der Autofahrer beging Fahrerflucht, wurde aber eine Weile später von der Polizei gestellt. Er kam ins Gefängnis. Dort hat er sich dann umgebracht. Bei der Obduktion fanden die Ärzte einen riesigen Tumor in seinem Hirn. Da konnte ich dem Mann nicht mal mehr böse sein. Der Haß und die Rachephantasien hatten mich noch einigermaßen aufrecht gehalten, doch nun war da gar nichts mehr. Und wie nun auch noch die Arbeit verlorenging, sagte ich mir, brich deine Zelte ab, laß alles hinter dir, fang irgendwo anders neu an. Das habe ich getan. Daß es aber so aussehen könnte, das Neue, das hätte ich nicht gedacht.

Hier in Berlin angekommen, versuchte ich mich mit dem Geld, das ich noch hatte, eine Weile über Wasser zu halten. Ich arbeitete in allen möglichen Jobs, alles schlecht bezahlte Hilfsarbeiten. Nebenbei probierte ich, mit der Fotografie etwas Geld zu verdienen, denn davon verstehe ich ein bißchen was. Damals existierte ja noch die Mauer. Dann, als ich damals im November 89 von fremden Menschen auf die Mauer gehoben wurde und von oben herunter fotografiert habe, da war ich zum ersten Mal richtiggehend glücklich. Es war unglaublich, was sich da tat. Wie die Menschen andrängten und immer mehr und mehr wurden, als die Mauer aufgegangen war. Da dachte ich noch, so, jetzt beginnt ein neues Leben für mich – mit diesen Bildern in der Tasche! Aber da hatte ich mich total geirrt. Die Zeitungsfotografen waren ja auch alle dort. Kein Mensch interessierte sich für meine Bilder. Ich hätte es mir zu Herzen nehmen sollen, habe aber die Enttäuschung überwunden und seither versuche ich mich mit der Fotografie aus dem Schlamassel zu bringen. Ich versuche meine Bilder an den Mann zu bringen, aber das ist nicht einfach. Es ist sogar illegal. Ich bin Sozialhilfeempfänger und deshalb verpflichtet, jede Mark, die ich dazuverdiene, anzugeben und mir abziehen zu lassen von meinem Sozialhilfesatz. Hole ich mir einen Gewerbeschein, und es wird weitergemeldet, dann fliege ich aus dem Sozialamt raus. Hole ich mir aber keinen Gewerbeschein und arbeite schwarz, dann mache ich mich strafbar, bezüglich der Gewerbeordnung. Auch lauern überall Denunzianten. Es ist dies ein Riesenproblem, über das ich Tag und Nacht nachdenke. Auch die Experten würden da keine Lösung finden. Wie kann ich selbständig werden, ohne mir was Illegales zuschulden kommen zu lassen? Aber meistens kommt es ja gar nicht erst dazu, bis auf ganz wenige Ausnahmen. Leider. In diesen Fällen hatte ich dann grade mal den Film und die Entwicklerkosten wieder drin, unterm Strich.

Also ehrlich gesagt, mir ist das ein vollkommenes Rätsel, das Geschäftsleben – die gesamte Geschäftswelt. Manchmal, wenn ich durch die Stadt spaziere und sehe, wie die Häuser in die Höhe wachsen, mit Marmorfassaden und getönten Fensterfronten, wie unten die Luxusgeschäfte eröffnen und oben die zentralbeheizten Büroetagen und Wohnungen bezogen werden, dann frage ich mich, wie kann das gehen? Woher haben die Leute das Geld? Wie machen sie das alle? Wie funktioniert es? Da muß doch irgend ein Betrug mit im Spiele sein, sonst bleibe ich doch immerzu nur auf meinen Unkosten sitzen, oder bekomme sie bestenfalls zurück. Ich denke ja nach besten Kräften praktisch, ich weiß,

ich brauche Kapital. Ohne Kapital geht es ja gar nicht. Das als erstes mal. Doch woher bekommt man ein Kapital? Besser, woher bekommt einer wie ich ein Kapital? Das soll mir so ein Geschäftshai mal vormachen, wie er an meiner Stelle zu einem Kapital kommt. Es bekommt nur der was, der bereits ein Kapital hat. Das ist doch widersinnig. Ich jedenfalls habe keines und damit keinerlei Sicherheiten. Im Gegenteil. Deshalb brauche ich ja ein Kapital! Aber keine Bank der Welt würde mir auf diese logische Schlußfolgerung hin einen Kredit geben.

Das ist doch ein schreckliches Dilemma. Aber niemanden interessiert meine Überlegung. Ich habe das ja schon verschiedentlich vorgetragen, auch auf dem Amt, aber nur einer hatte mal für kurze Zeit ein Ohr für mich. Der sagte, daß es schön ist, wenn der Mensch, auch in scheinbar aussichtloser Lage, die Hoffnung nicht aufgibt. Gut, ich gebe die Hoffnung nicht auf. Der Beweis dafür ist, daß ich sogar eine Straftat riskiere. Immer wieder.

Zuerst habe ich es bei den Berlintouristen versucht. Ich dachte mir, die kommen hierher, aus westdeutschen Kleinstädten und Dörfern, gehen am Brandenburger Tor herum und möchten vielleicht ein Andenken daran mit nach Hause nehmen. Das wäre doch denkbar? Sie kaufen ja auch von diesen Betrügern. Angeblich echte Mauersplitter – teilweise befinden sich diese in einer Kugel, in der es schneit, wenn man sie schüttelt. Das wird wie wild gekauft, zu stolzen Preisen. Also habe ich es auch versucht. Mit einer Polaroidkamera. Denn man muß ja die Bilder sofort zur Hand haben, bei einem Reisenden. Mit dieser Idee habe ich mich richtiggehend ruiniert. Einmal war es der Preis für die Kamera, die mich einiges gekostet hat, und dann waren es die teuren Kassetten, die ins Geld gingen. Das mußte ich unter Entbehrungen alles vorfinanzieren, aus meiner eigenen Tasche. Ich dachte, fünf Mark pro Bild, das ist nicht zuviel verlangt, oder?! So hatte ich mir einen kleinen Gewinn ausgerechnet, und die Kamera hätte sich, samt Filmmaterial, mit der Zeit amortisiert.

Schnell merkte ich, daß ich die Touristen auf keinen Fall vorher fragen darf. Dann überlegen sie sich das Angebot, lehnen es ab, weil sie glauben, daß irgendein Haken an der Sache sei, oder weil ihnen der Preis zu hoch ist. Touristen sind oft sehr mißtrauisch und unberechenbar. Eben lachen sie noch und schon reagieren sie unfreundlich und ablehnend. Manchmal war es richtiggehend peinlich, wie sie vor mir zurückgewichen sind. Am besten ging es noch mit älteren Damen in kleinen Gruppen, aber da fiel dann eben für fünf Personen oft nur ein Bild an. Ja, Liebespaare, das ging auch mal, ausnahmsweise, aber sonst erntete ich meistenteils Ablehnung. Dagegen konnte ich gar nichts machen, da ich die Leute ja unaufgefordert fotografiert habe. Was nutzt die ganze gute Idee, wenn niemand ein Bild kaufen möchte? Am Ende besaß ich eine Unmenge Bilder von lauter fremden Leuten. Das war natürlich nicht mein Ziel, und ich beschloß, die Sache sein zu lassen.

Nach dieser bitteren Erfahrung hatte ich immer noch nicht genug. Ich sagte mir, ich muß die Technik wechseln – und das Motiv. Also habe ich mir eine Solarkamera gekauft bei Quelle. Das war ein wahres Wunderwerk der Technik. Sie hatte ein sehr lichtempfindliches Objektiv, 1:1,2. Und sie brauchte keinerlei Batterie. Auch bei ungünstigen Lichtverhältnissen konnte ich mit ihr noch gute Bilder machen. Und wieder hatte ich mich in Unkosten gestürzt. 450 Mark kam sie mich, das ist für mich sehr viel Geld, sozusagen mein gesamtes Monatseinkommen. Für Nahrung und andere Kleinigkeiten blieb mir da nichts übrig. So war ich dann jeden Tag in einer anderen Suppenküche essen, ich bin durch die halbe Stadt gereist, nur für mein tägliches Essen und etwas Kleidung. Ich gehe zur Südsternkirche, in die Heiligkreuzkirche, ich gehe zur Bahnhofsmission und ins Kloster in die Wollankstraße. Zum Glück gibt es das alles, sonst wäre ich verloren. Ja, um nun zum Thema zurückzukommen, ich habe also diese Kamera gekauft und gleich damit im Frühling die ersten Krokusse fotografiert, im Schnee vor der Fliegerkaserne. Ich hatte mir einen Trick ausgedacht. Mit der linken Hand hielt ich eine starke Lupe vors Objektiv und drückte mit der Rechten den Auslöser. Erstaunlicherweise hat es funktioniert. Ich hatte Bilder von unglaublicher Tiefenschärfe. Jedes Staubgefäß war genau zu sehen. Mein Ziel war, das eigene winzige Spiegelbild auf einem Tautropfen im Blütenkelch ... Ich ließ Vergrößerungen machen, Format 10x14. Ein Postkartengruß für zwei Mark das Stück. Aber daraus wurde nichts. Zwar haben alle, denen ich meine Bilder gezeigt habe, sie sehr gelobt, aber kaufen wollte sie niemand. Jedenfalls nicht zu diesem Preis. Wäre ich aber runtergegangen, hätte ich sozusagen unter dem Herstellungspreis verkaufen müssen, was ja Wahnsinn wäre. Wie machen es die ganzen Unternehmer nur, daß der Kunde ihnen, ohne zu murren, die Gewinnspanne bezahlt? Das ist ein echtes Rätsel, mir gegenüber haben sich die Leute fast immer geweigert, obwohl ich nur minimale Beträge draufgeschlagen habe. Vielleicht scheitert es an dem Mangel an Seriosität. Ich habe keine Geschäftsräume, stehe herum und spreche fremde Menschen an? Jedenfalls habe ich es dann mit Stadtansichten versucht und sie vergeblich den Geschäften mit Postkartenständen angeboten. Danach habe ich mich wieder den Blumenaufnahmen zugewandt, weil in den Parkanlagen alles in voller Blüte stand. Ich kniete ganze Tage zwischen den Beeten, für meine Nahaufnahmen mit verschiedenen Lupen. Damals habe ich vom Weltraumteleskop „Hubble“ gelesen, sie nehmen dafür nur erstklassige Objektive und Linsen. Von Zeiss, glaube ich. Nur das beste Material jedenfalls. Und ich dachte, daß muß auch meine Devise sein: höchste Qualität! Aber das hat mir ebenso wenig gebracht wie der Versuch, Kinderporträts zu machen. Es fanden sich einfach nicht genug Interessenten und Abnehmer. Beziehungsweise, ich fand sie nicht. Denn geben tut es sie ja, seltsamerweise.

Danach kam mir die Idee mit den türkischen Familien. Es war, als ich durch den Park am Kreuzberg ging und Blumen fotografierte. Ich sah die türkischen Familien dort herumwandeln. Richtige Familien, mit Großvater und Großmutter, alle schön gekleidet an den Sonntagen, und ich wußte, sie möchten fotografiert werden. Ich habe mal so ein Familienoberhaupt vorsichtig angesprochen, und tatsächlich, es klappte auf Anhieb. Hintergrund sollte der Viktoria-Wasserfall sein. Und es sah wirklich sehr gut aus, wenn die ganze Familie vor dem Wasserlauf stand, obgleich es gerade dort ein wenig dunkel ist. Es ging aber dennoch sehr gut. Das sind ja ganz andere Menschen als wir. Sie nehmen das sehr ernst, so ein Foto. So als ob jeder genau wüßte, daß vielleicht später, wenn er schon tot ist, jemand auf ihn deutet und sagt, das war der Onkel Soundso, als Kind in Berlin, in Deutschland.

Die Türken, muß ich sagen, waren die besten Kunden, die ich jemals hatte. Sie haben seltsamerweise nie selber eine Kamera. Das muß am Glauben liegen. Ich habe nicht gefragt. Jedenfalls bemühen sie sich um würdiges Aussehen, sie machen keine Faxen, lächeln wenig und überlassen die ganze Angelegenheit ansonsten dem Fachmann. Und so haben sie mich auch behandelt. Mit Respekt. Sie haben die Bilder hinterher zuverlässig bezahlt. Ich war sehr bescheiden, dachte es würde sich herumsprechen. Ein bißchen war das auch der Fall. Alle wollten sie am Wasserfall fotografiert werden. Endlich schien es mit mir etwas aufwärtszugehen, ich hatte schon ein gutes Stativ ins Auge gefaßt. Das einzige, das mich zur Raserei brachte, das war der Zustand des Wasserfalles. Unbeschreiblich, wie man den verdrecken ließ. Unrat und Bierbüchsen schwammen im Bachbett herum. Das mußte ich am Sonntagmorgen erst jedes Mal mühsam rausholen und beiseite räumen, ohne mich selber schmutzig zu machen dabei. So hätte ich ja nicht fotografieren können. Denn wer möchte schon gerne zu Hause in der Türkei Bilder herzeigen, auf denen er mitten im Müll steht? Das ist unzumutbar. Und dem würden die Verwandten doch gar nicht glauben, daß der in Deutschland ist. Also habe ich für einen schönen Hintergrund gesorgt und mich dann dort postiert, wiedererkennbar an meiner Baskenmütze. Und ich hatte gerade ausgerechnet, wie ich mir nun endlich eine Existenzgrundlage schaffen kann, wenn es mir gelingt, zweihundert Blatt zu verkaufen, da wurden die Wasserfälle abgeschaltet. Eine Sparmaßnahme.

Vom nächsten Schlag, der mich traf, spreche ich gar nicht gerne. Ich habe ihn immer noch nicht verwunden. Man hat mir meine Kamera gestohlen! Aus meinem Schrank, aus meinem Zimmer in der Fliegerkaserne. Der Zimmerkollege hat die Tür offen gelassen und so konnte jeder, der wollte, rein und sich bedienen. Jedenfalls hat niemand etwas gehört oder gesehen. Die Heimleitung zeigte sich machtlos. Eine Polizei schreitet in unserem Haus nicht ein, in so einem Bagatellfall. Eine Versicherung hatte ich natürlich auch nicht. Also mußte die ganze Sache einfach so im Sande verlaufen. Schon bald sprach niemand mehr davon. Und nun stellen Sie sich das mal vor, ich treffe den, der es war, alle Tage, weiß aber nicht, wer es ist. Vielleicht bin ich sogar freundlich zu ihm, kann ich das wissen? Ahhh! Dem Täter wünsche ich, daß er beide Hände verliert. Auf einen Schlag! Oder besser noch, mit dem Hammer möchte ich sie ihm zu Brei schlagen. Und mit einem schweren, spitzen Stein würde ich ihm gerne seine Kniescheiben zertrümmern, daß er künftig nicht mehr von der Stelle kommt, mit seinem Diebesgut. Manchmal möchte ich einfach jeden, der in Frage kommt, über den Haufen schießen. In so einen Zustand hat man mich gebracht, mich, der ich ein sanfter und freundlicher Mensch bin. Ich gehe mit einem riesigen Haß herum. Alle Tage.

Schon deshalb muß ich als allererstes mal raus aus der Fliegerkaserne. Auch wegen der Heizerei im Winter. Das sind doch alles keine menschenwürdigen Zustände. Im Zimmer, wo wir ja auch unser Essen haben, werden die Briketts aufgestapelt. Das schmutzt nicht nur, es stinkt auch. Immerzu haben wir diesen fauligen Brikettgeruch in der Nase. Aber wir müssen sie im Zimmer lagern, denn wenn wir sie draußen lagern, werden sie sofort gestohlen. Zu alldem kommt dann noch die Raucherei meines Mitbewohners. In der kalten Jahreszeit kann ich ja nicht dauernd lüften. Also bleibe ich entweder abends, so lange es geht, meinem Zimmer fern, oder ich sitze in dem ganzen Rauch herum. Und im Sommer, da könnte ich zwar dauernd lüften, dem stellt sich aber wieder ein anderes Problem in den Weg. Es kommen nämlich die Mäuse an der Hauswand hochgeklettert. Wie sie das machen, ist mir ein wirkliches Rätsel. Sie turnen ins Zimmer herein, rennen über den Boden und fallen über das bißchen Essen her, das da ist. Es hat auch keinen Sinn, die Sachen im Schrank aufzubewahren. Sie finden alles und dringen überall ein. Ich habe es schon mit Gift versucht und mit Mausefallen. Aber da machen sie sich gar nichts draus. Zwei, drei hat es erwischt. Das sind die Zustände.

Nun frage ich Sie: Ist das nun alles mein Fehler? Sie leben doch auch nicht so. Weshalb also ich? Ich frage mich das alle Tage. Dem Selbstvertrauen ist das nicht gerade förderlich. Trotzdem habe ich den Gedanken, je wieder eine eigene Wohnung zu finden, immer noch nicht ganz aufgegeben. Aber wie soll ich eine Wohnung finden, ohne Arbeit und mit dieser Meldeadresse? Wenn der Vermieter hört, ich habe keine Gehaltsbescheinigung, ich komme aus dem Sozialbereich, dann ist es gleich aus, dann ist die Wohnung bereits vermietet. Verbergen läßt sich dieser Makel nicht, denn ich brauche ja eine Kostenübernahmebescheinigung vom Sozialamt. Und an eine Sozialwohnung komme ich schon gar nicht. Selbst Familien haben so gut wie keine Chance eine zu finden, da können sie zehn Wohnberechtigungsscheine haben. Überhaupt, Alleinstehender zu sein, so im Alter, das ist wie ein Fluch. Man zählt einfach nicht. Meine Mutter hat immer gesagt: Günther, gründe eine Familie, dann hast du es im Alter besser. Ich wollte ja. Na und außerdem, wer weiß schon, was aus den Kindern mal wird? Ihr hatte das jedenfalls nichts genutzt am Ende. 1974, am Tag vor der Fußballweltmeisterschaft, ist sie einsam und verlassen gestorben. Schuld daran war eine lang sich hinschleppende Krankheit. Wir sind aus Schlesien. Die Mutter hatte dort in der Fabrik gearbeitet. Da stiegen giftige Dämpfe auf und es gab keinerlei Abzugsanlagen und Entlüftungen, nichts. Sie atmete jahrelang das ganze Gift ein, war immer krank und schwach davon, auch viel später noch, als wir schon längst weg waren. Deshalb ist sie auch so früh gestorben. Sie ist noch nicht mal sechzig Jahre alt geworden. Ich war, als sie starb, gerade mal einunddreißig und hatte meine Arbeit und Wohnung. Meine Enttäuschungen, die lagen noch vor mir.

Und nun bin ich fünfundfünfzig Jahre und überlege hin und her, ob ich eventuell in eine Wohngemeinschaft ziehen soll. Es käme da möglicherweise eine in Frage, habe ich gehört, in Tiergarten, 5. Stockwerk, ohne Lift. Deshalb habe ich auch noch nichts unternommen. Wer weiß, ob ich morgen noch so gut zu Fuß sein werde wie heute? Ich bin Diabetiker, da bekommt man immer was mit den Füßen, hat mir der Arzt gesagt. Dann könnte ich die Wohnung vielleicht eines Tages nicht mehr verlassen, nicht mal im Rollstuhl, nur weil ich nicht mehr in der Lage bin, die Treppen raufzusteigen. Das würde mich wahnsinnig machen. Meine Bewegung, meine täglichen Gänge durch die Stadt, das bißchen Kontakt mit der Außenwelt, das ich noch habe, das alles ist mir so wichtig wie die Luft zum Atmen. Ich darf jetzt keine Fehler machen. In meiner Lage hat das jahrelang anhaltende Folgen. Ohne Geld ist man vollkommen machtlos, allen Tücken ausgeliefert. Ich habe zum Leben 480 Mark pro Monat, dazu bekomme ich noch eine Pauschale, eine kleine Zulage für meine Zuckerdiät. Ich kann von mir sagen, ich lebe wirklich sehr bescheiden. Ich habe mich befreit von jeglichem Luxus, der für andere Leute eine Selbstverständlichkeit ist. Kino, Theater, Reisen, Zeitungen, Bücher, Schallplatten, Rasierwasser, gute Bekleidung, gutes Essen, Frisör und mal ein Taxi, das alles wurde abgeschafft. Es soll mir mal einer vormachen, mit 16 Mark am Tage auszukommen, mit U-Bahn- Fahrschein und allem. Das gibt der Normalbürger für Kaffee und Kuchen am Ku'damm aus, in einem halben Stündlein. Manchmal hätte ich Lust, mich auch einfach mal reinzusetzen in so ein Café und zu bestellen. Ich würde nicht einmal auffallen, denn auf mein Äußeres achte ich sehr. Trotz allem. Man sieht es mir nicht an, daß alles, was ich am Körper trage aus zweiter Hand ist. Mein Anzug, das Hemd, die Krawatte, die Socken, die Unterwäsche sogar, die Schuhe und meine Baskenmütze, all das stammt aus der Kleiderkammer der Arbeiterwohlfahrt. Aber was nutzt es mir, wenn ich wie ein Normalverdiener aussehe, aber keiner bin? Momentan versuche ich gerade mal wieder etwas Geld zu sparen. So 100 bis 150 Mark wären nötig, um als Plüschtierhändler auf die Beine zu kommen. Das Problem ist nur, meine Kapitaldecke ist zu dünn. Und so kommt es, daß mir die Entfaltungsmöglichkeiten genommen sind.

Nachtrag

Nichts bleibt, wie es war, und so ist es auch dem kleinen Fotografen gelungen, mit seiner Geschichte etwas voranzukommen. Wir trafen ihn in der Armenausspeisung Südsternkirche, nachdem er längere Zeit verschwunden war. Er trug einen prall gefüllten Stoffbeutel bei sich mit der Aufschrift: „Sag Europa, daß ich da bin.“ Sein magerer Hals ragte aus einem blütenweißen Hemdkragen, er hatte eine ausgebeulte Cordhose an und ein englisch aussehendes Tweedjackett. Alles schien ihm um zwei, drei Nummer zu weit zu sein, der ganze kleine Mann wirkte irgendwie geschrumpft, war aber ansonsten bei guter Laune. Er erzählte:

Mein Leben hat sich gewendet. Zuerst einmal bin ich umgekippt, hier in der Kirche. Na, keiner kannte meinen Namen, schon gar nicht meinen Nachnamen. Ich hatte auch nicht mehr die Möglichkeit ihn zu sagen. Als ich wieder zu mir kam, habe ich mich im Krankenhaus wiedergefunden. Wie ich hierherkam, wie ich ins Krankenhaus kam, das alles wußte ich nicht mehr. Es lag wie ein Nebel über meinem Erinnerungsvermögen. Ich habe nichts und niemanden wiedererkannt, wie es schien. Aber es war ja nur gut, daß ich hier zusammengebrochen bin, in der Kirche, und nicht in Spandau in der Fliegerkaserne, die ich mein Zuhause nennen mußte, so lange Zeit. Dieses Zuckerkoma war der reine Glücksfall für mich. Jetzt endlich bin ich raus dort und habe in einem Wohnheim in Marienfelde ein schönes kleines Zimmer für mich alleine. Sogar mit Zentralheizung. Jetzt muß ich nur noch lernen, mir die Insulinspritzen selber zu geben und meine Diät richtig einzuhalten. Und hier ... Der kleine Fotograf zeigte stolz seinen makellosen rechten Handrücken vor, kein aufgekratztes Wundmal war mehr zu sehen. Wie ich gesagt habe. Das heilt alles zu, sobald ich aus der Fliegerkaserne raus bin! Derweil war seine Nase frisch blutig gekratzt und sein linker Handrücken auch.