„Unsere Politischen sollen freikommen“

■ Palästinenser protestieren dagegen, daß fast nur Kriminelle aus der Haft entlassen werden

Jerusalem (taz) – Schüsse peitschen durch die Luft. Noch sind es nur Warnschüsse. Die Händler in der Salah Eddin Straße in Ostjerusalem haben ihre eisernen Ladentüren bis auf einen Spalt dichtgemacht. Der Geldwechsler steckt seinen Kopf aus der Türe und gibt einen kostenlosen Rat: „Machen Sie, daß Sie von der Straße kommen, so schnell wie möglich.“ Zu spät. Rund 30 palästinensische Jugendliche sind auf unserer Höhe angekommen. Der Feind, die israelische Grenzpolizei, steht 40 Meter weiter oben auf der Straße. Steine fliegen durch die Luft. Passanten suchen Deckung hinter den Hauswänden und in den Seitenstraßen. Die israelischen Polizisten haben die brennenden Müllcontainer mitten auf der Salah Eddin Straße erreicht. Langsam rücken einige vorwärts. Gleich werden sie die gummiummantelten Stahlgeschosse abfeuern.

Das Katz-und-Maus-Spiel hält die Jerusalemer den Nachmittag über in Atem. Im Zigarettenladen gegenüber der Post steht heute auch der Großvater mit hinter der Verkaufstheke. Unaufgefordert erzählt er, worum es geht. „Die Israelis sollen unsere Gefangenen freilassen“, sagt er. „Und zwar die politischen und nicht die kriminellen. Die Demonstration wollte vom National-Hotel aus losgehen. Aber die israelische Polizei hat verhindert, daß die Demonstration auch nur einen Meter marschieren konnte“, sagt der Alte. „Es soll endlich Frieden werden“, fügt er hinzu, „aber unsere Gefangenen müssen freikommen.“ Der Enkel neben ihm nickt zustimmend.

Doch von den 250 Gefangenen, die Israel nach dem Wye-Abkommen bislang aus der Haft entlassen hat, waren nur knapp 80 politische Täter, wie die Menschenrechtsorganisation LAW berichtet. Selbst nach den engen Kriterien des Wye- Abkommens gebe es 1.800 politische Gefangene, die die israelische Forderung, kein „jüdisches Blut an den Händen“ zu haben, erfüllten und für eine Freilassung in Frage kämen. Freikommen werden nach dem Wye-Abkommen ohnehin nur 750 Gefangene. Insgesamt hält Israel fast 3.500 Palästinenser in Haft. Besonders unverständlich ist den Palästinensern, daß Israel die PLO-Führer, die die Aufträge für Widerstandsoperationen erteilt haben, ins Land zurückkehren läßt und mit ihnen über Frieden verhandelt, die „kleinen Täter“ aber nicht freigeben will.

Bei den Auseinandersetzungen in Jerusalem wurden am Samstag 35 Palästinenser und neun Polizisten verletzt, wie die israelische Polizei bekanntgab. 19 Jugendliche wurden verhaftet. Aber nicht nur in Jerusalem, auch in Bethlehem marschierten etwa 200 Demonstranten auf einen israelischen Armeeposten zu und deckten ihn mit einem Steinhagel ein. Weitere Demonstrationen gab es in den anderen palästinensisch kontrollierten Städten wie Ramallah, Nablus, Jenin, Kalkilia und Tulkarem. Dort wurden auch Vorwürfe gegen die palästinensische Autonomiebehörde laut, nicht genug für die Freilassung der Gefangenen zu tun. Die Autonomiebehörde nahm die Vorwürfe durchaus ernst. Verhandlungsführer Saeb Ereikat erklärte, Palästinenserpräsident Jassir Arafat werde die Frage noch in dieser Woche während seines Besuches in Washington mit US-Präsident Bill Clinton besprechen. Georg Baltissen