Von heute an konferieren Vertreter von 44 Ländern über das Vermögen, das die Nazis europäischen Juden gestohlen haben. Mehr als 50 Jahre nach dem Raubzug sollen Ansprüche der Bestohlenen geregelt werden. Heikelster Punkt: Kunstwerke im Wert

Von heute an konferieren Vertreter von 44 Ländern über das Vermögen, das die Nazis europäischen Juden gestohlen haben. Mehr als 50 Jahre nach dem Raubzug sollen Ansprüche der Bestohlenen geregelt werden. Heikelster Punkt: Kunstwerke im Wert bis zu 140 Milliarden Dollar

Das geraubte Erbe

Als Gerda Haas noch ein Kind war, gab es das Sprichwort: „Ausziehen tu ich mich, wenn ich zu Bett gehe.“ Das bedeutete, über Vermögensverhältnisse gibt man erst auf dem Totenbett Auskunft, erzählt sie heute. Auf der Flucht vor Hitler irrte Gerda Haas zwischen Prag, Amsterdam, Paris, Schanghai und San Francisco umher, bis sie sich in Tacoma bei Seattle niederließ. Doch das Totenlager von Gerdas Vater war ein Zug nach Auschwitz. Er hatte seiner Tochter keine Auskunft darüber geben können, was er für die Sicherung der Familie getan hat.

Nur einmal habe er über Geld gesprochen, erinnert sich die Tochter. Als sie 1935 ihren Mann Johann Ivan Haas in Berlin heiratete. „Kann der auch für dich sorgen, hat er eine Lebensversicherung abgeschlossen?“ Sechs Jahrzehnte später erinnerte Gerda Haas sich an diese Frage. Das war, als sie in Seattle von Deborah Senn, der Leiterin der Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen des Bundesstaats Washington, angesprochen wurde. Der Vater hatte einen koscheren Schlachtereibetrieb und zwei Mietshäuser. „Ganz bestimmt hatte er die versichert und sicherlich hatte er auch eine Lebensversicherung.“ Gerda Haas aber hatte nicht die geringste Ahnung, an wen sie sich wenden sollte, um die Policen einzulösen.

Erst jetzt, mehr als 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, werden Ansprüche wie die von Gerda Haas gestellt und ernst genommen. Heute beginnt in Washington die internationale Holocaust-Vermögenskonferenz. Sie soll erstmals den beispiellosen Raubzug der Nationalsozialisten in seinem ganzen Umfang erfassen. Auf Einladung des Holocaust Museums und des State Departments kommen 44 nationale Delegationen und ein Dutzend unabhängige Organisationen zusammen, um über Modalitäten für die Rückgabe des von Nazis geraubten Vermögens zu beraten. „Es gibt nur noch einige hunderttausend Überlebende, die alt und gebrechlich sind“, erklärt Stuart Eizenstat, stellvertretender US-Außenminister und Leiter der amerikanischen Delegation, „und denen soll Gerechtigkeit widerfahren, ohne daß sie dafür kämpfen müssen.“

Hervorgegangen ist die Idee zur „Holocaust-Era Assets Conference“ letztes Jahr aus den Beratungen der Londoner Dreiseitigen Goldkommission, die die Rückgabe von Raub- und Totengold durchführen sollte, sowie aus den Nachforschungen über sogenannte namenlose Konten bei Schweizer Banken. Im Lauf dieser vom State Department durchgeführten historischen Forschungen wurden – nach den osteuropäischen Archiven – Millionen von Dokumenten aus amerikanischen Archiven freigegeben, die einen neuen Blick auf den systematischen Raubzug der Nazis eröffneten und den Bestohlenen oder deren Nachkommen ermöglichen, Besitzansprüche zu stellen.

Im Zentrum der Washingtoner Vermögenskonferenz stehen Versicherungen, Kunstwerke und Gemeindeeigentum wie Synagogen, Friedhöfe, Schulen und Krankenhäuser. Sieben historische Kommissionen studierten die Ansprüche auf geraubtes Vermögen. Einige spektakuläre Fälle machten dieses Jahr eine internationale Öffentlichkeit darauf aufmerksam, daß es mit der Rückgabe von Gold und der Entschädigung von Bankkunden nicht getan ist.

Ansprüche auf das Raubgut

In New York beschlagnahmte Anfang des Jahres die Staatsanwaltschaft zwei Bilder des Malers Egon Schiele, weil deren Besitzer sich meldeten: „Porträt von Wally“ und „Tote Stadt“ waren als österreichische Leihgaben im Modern Museum of Art ausgestellt. In Seattle erkannte ein Leser in einem Buch über den Kunstraub der Nazis einen gestohlenen Matisse wieder, von dem er wußte, daß er im Seattle Art Museum hängt und Alfred Rosenberg gehört. Insgesamt haben die Nationalsozialisten Kunstgegenstände im Wert zwischen neun und vierzehn Milliarden Dollar geraubt. Heute sind sie zwischen 90 und 140 Milliarden Dollar wert.

Die Ansprüche auf Raubgut der Nazis sind nicht leicht zu dokumentieren. „Wir müssen bei der Lösung dieses Problems von der Konfrontation zur Kooperation kommen,“ sagt dazu J. D. Bindenagel, Organisator der Holocaust-Era Assets Konferenz. „Viele der Beraubten sind alt, manche haben einen jahrzehntelangen Schriftwechsel um ihr Recht geführt. Die Konferenz soll die Vertreter von Holocaustüberlebenden mit denen zusammenzubringen, die ihren Ansprüchen genügen sollen.“ Als Ergebnis der Konferenz wird zunächst eine benutzerfreundliche Datenbank erwartet, in der Kunstwerke zweifelhaften Ursprungs im Internet eingesehen werden können.

Wie vage Erinnerungen an früheren Besitz sind, weiß Caterine Lillie. Sie ist Direktorin des Holocaust Claims Processing Office, das im September letzten Jahres als Abteilung der New Yorker Bankenaufsicht eingerichtet wurde: „Eine Frau erinnerte sich nur, daß ihr Vater ihr mal gesagt hatte, um ihre Aussteuer brauche sie sich keine Sorgen zu machen. Eine andere erinnerte sich, daß einmal im Monat ein Mann da war, der Geld kassierte. Das könnte ein Versicherungsvertreter gewesen sein. Und dann müssen wir die Leute fragen, ob sie sich an Schriftstücke, Briefköpfe, an ein Firmenlogo erinnern. Und manche erinnern sich in der Tat an einen Adler, eine Feder, etwas Weißes auf blauem Grund. Und wieder haben wir ein Stück des Puzzles.“

6.000 Leute haben bisher bei dieser Stelle Ansprüche gestellt – sie kamen aus New York und anderen Bundesstaaten, sie kamen aus Uruguay und Australien, sie kommen, rufen an oder schreiben. „3.000 Ansprüche haben wir substantiieren und Anwälten übergeben können, die sie einklagen werden“, so Caterine Lillie.

„Ich dachte immer, ich wüßte über das Unrecht der Nazis gut Bescheid“, sagt eine Mitarbeiterin im deutschen Konsulat von Seattle, die Holocaustüberlebenden und deren Nachkommen hatte helfen wollen, „damit die Deutschen hier auch mal in einem anderen Licht erscheinen“. Sie hatte sich angeboten, Versicherungsgesellschaften anzuschreiben und nach verschollenen oder uneingelösten Policen zu fragen. „Die Antwort war stets höflich ,Sehr verehrte gnädige Frau ...‘ Aber nach der sechsten Nachfrage war das Archiv in Dresden verbrannt oder die Police schon ausgezahlt.“

Auch Gerda Haas bekam eine Antwort. Drei Policen seien von ihrem Vater zusammengelegt und 1937 ausbezahlt worden. Es bestand auch eine vierte, aber es läßt sich nicht feststellen, was aus ihr geworden ist. Wahrscheinlich ist sie auch ausgezahlt worden. An wen? Unter welchen Umständen? Keine Auskunft. Peter Tautfest, Washington