"Die Krise war die Stunde der Wahrheit"

■ Die russische Historikerin Marina Pawlowa-Silwanskaja vom Moskauer Carnegie-Zentrum über die gesellschaftlichen Folgen der ökonomischen Krise, den Mord an der Politikerin Galina Starowojtowa und die

taz: Durch die russische Wirtschaftskrise wurde dem neuen Mittelstand weitgehend die ökonomische Basis entzogen. Wie haben sich diese Ereignisse insgesamt auf das Bewußtsein der Menschen ausgewirkt?

Marina Pawlowa-Silwanskaja: Diese wirtschaftliche und politische Krise war eine Zäsur, eine Stunde der Wahrheit, in der die Menschen viel über sich und das Land erfahren haben. Es wurde klar, daß es keine Reformen gegeben hatte und wie wenig Konsens innerhalb der politischen Elite über den Kurs besteht. Eine weitere Folge ist, daß jetzt ein tiefes Mißtrauen gegenüber allen Institutionen und politischen Prozessen herrscht.

Sind damit Werte wie Demokratie oder Marktwirtschaft grundsätzlich in Frage gestellt?

Unsere Gesellschaft ist tief gespalten. Letzte Umfragen zeigen, daß die liberale Wirtschaftspolitik total diskreditiert ist. Gleichzeitig halten die Leute an neuen Errungenschaften, wie zum Beispiel dem Privateigentum, fest. Das gilt auch für Grund- und Menschenrechte wie Pressefreiheit oder das Recht zu reisen. Diese Rechte gewinnen für die Mehrheit der Bevölkerung immer mehr an Bedeutung. Das heißt, die Menschen wollen eine offene und demokratische Gesellschaft.

Trotzdem werden immer wieder Szenarien beschworen, in Rußland könne sich ein autoritäres Regime etablieren. In diesem Zusammenhang fällt oft der Name von Alexander Lebed, dem für die nächsten Präsidentenwahlen gute Chancen eingeräumt werden.

Auch in Rußland selbst warnen viele vor der Gefahr autoritärer Tendenzen. Ein bekannter Wirtschaftswissenschaftler hat das vor kurzem so formuliert: Bei einem solchen Niveau des Bruttosozialprodukts pro Kopf gibt es keine Demokratie. Natürlich kann man ein autokratisches System nicht ausschließen. Die Frage ist doch aber, was ein solches Regime unter den Bedingungen im heutigen Rußland konkret bedeuten könnte. Daß die Pressefreiheit radikal eingeschränkt wird? Das erscheint mir nicht mehr möglich.

Wird der Mord an der demokratischen Politikerin Galina Starowojtowa Folgen haben?

Unsere Gesellschaft hat ein sehr schlechtes Gedächtnis. Man vergißt, was vor zwei Wochen passiert ist. Doch dieser Mord wird haftenbleiben. Es gab bereits mehrere Morde an Abgeordneten. Doch diesmal war es zum ersten Mal eine Frau, noch dazu eine, die saubere Hände hatte. Jetzt sind die Leute gezwungen, über die Art des Wahlkampfs in St. Petersburg nachzudenken und darüber, wie es bei den nächsten Wahlen in Moskau werden könnte. So gesehen, hat dieser Mord zu einer weiteren Politisierung der Gesellschaft beigetragen.

Kann der Fall Starowojtowa zum Motor für eine Neuformierung der demokratischen Kräfte Rußlands werden?

Die Hoffnung, daß das zumindest in St. Petersburg gelingen könnte, hat sich als Illusion erwiesen. Dabei behielt der alte Gegensatz zwischen den liberalen Kräften und der Jabloko-Partei die Oberhand. Jabloko hat wieder erklärt, daß sie mit dem Vereinigungsprozeß mehrerer kleiner liberaler Parteien nichts zu tun hat. Und die liberalen Politiker, die den Vereinigungsprozeß initiiert haben, werden keine bedeutende demokratische Bewegung um sich scharen können. Der zweite Fehler bestand darin, daß Präsident Boris Jelzin diesem Zusammenschluß seine Unterstützung zugesagt hat. Dazu hat er der Verfassung nach kein Recht. Außerdem hat Jelzins Intervention diese kleine Gruppe liberaler Politiker diskreditiert.

Welche Rolle spielt Jelzin?

Das Präsidentenamt ist jetzt eine leere Hülle. Jelzin hat de facto alle Macht an Premierminister Primakow delegiert. Wenn Primakow den politischen Willen hätte, alle Präsidentenvollmachten voll auszunutzen, hätte er jetzt die Chance dazu. Die Ära Jelzin ist bereits zu Ende gegangen.

Jelzin ist aufgrund seiner Krankheit nicht mehr in der Lage, seine Amtsgeschäfte wahrzunehmen. Wenn Sie seine persönliche Beraterin wären, würden Sie ihm raten zurückzutreten?

Ich bin keine Beraterin, sondern eine Beobachterin der politischen Entwicklungen. Aber rein menschlich würde ich sagen, daß er zurücktreten soll. Das, was man mit ihm in der letzten Zeit gemacht hat, war unmenschlich. Alle Parteien haben aber im Moment ein Interesse daran, daß Jelzin möglichst lange lebt. Denn keiner der möglichen Bewerber ist auf Präsidentenwahlen vorbereitet. Deshalb ist niemand daran gelegen, daß Jelzin von der politischen Bühne verschwindet. Das würde Rußland zusätzlich destabilisieren. Vorstellbar wäre höchstens ein Rücktritt vor den Parlamentswahlen im kommenden Jahr.

Wer kommt nach Boris Jelzin?

Im Moment hat Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow die besten Chancen. Er verfügt über Geld, Medien und hat eine Mannschaft, die sehr effektiv und handlungsfähig ist. Jetzt gründet er auch noch seine eigene Partei. Und wenn Luschkow Präsident wird, hat er zum ersten Mal eine Partei hinter sich, die ihn unterstützt.

Eigentlich bräuchte Rußland aber einen Wechsel der politischen Elite. Als ein Vertreter einer neuen Politikergeneration kann man Luschkow keinsfalls bezeichnen.

Luschkow ist eine Art Brücke zwischen Altem und Neuen. Er hat begriffen, wie die Marktwirtschaft funktioniert. Gleichzeitig kann er mit den alten Leuten in ihrer Sprache sprechen. Und das imponiert vielen. Er ist nicht so wie der Chef von Jabloko, Jawlinski, der den meisten fremd bleibt. In Luschkows Mannschaft sind nicht nur diese verstaubten Politiker, sondern durchaus auch Vertreter der jungen Generation. Klar ist, daß ein grundlegender Generationswechsel stattfinden muß. Interview: Barbara Oertel

Marina Pawlowa-Silwanskaja ist heute um 19.30 Uhr zu Gast bei der Heinrich-Böll-Stiftung und der taz in den Hackeschen Höfen in Berlin