Vertrocknete Herzen

■ Nach der Revolution: Im 3001 starten zum zehnten Mal die Lateinamerika-Filmtage Von Oliver Rohlf

Vera beneidet Ernesto, weil der in besseren Tagen geboren wurde. Denn der Argentinier hat die revolutionären Zeiten in Lateinamerika während der 50er und 60er Jahre miterlebt und war eigens nach Kuba gereist, um Zeuge einer Vision zu sein. Damals war der Glaube an eine anti-imperialistische Weltordnung keine Träumerei. Vera hingegen ist Kubanerin, doch mit Mitte 20 gerade mal alt genug, diese alte Utopie in ihrem eigenen Land sterben zu sehen. Ihrer Meinung nach haben die Menschen jetzt bloß noch „vertrocknete Herzen“. Doch den einstigen Widerständler plagt neben dem Verlust einer großen Idee vor allem der seelische Trümmerhaufen seines Lebens und seiner Familie, die vor den Repressalien der Militärjunta im Argentinien der 70er Jahre fliehen mußte und daran zerbrach. In Wach auf, Liebe von Eliseo Subiela wünschen sich beide den Glauben an ein Morgen zurück, die Möglichkeit, Liebe wieder leben zu können.

Die 10. Lateinamerika-Filmtage bewegen sich in einem Spannungsfeld aus individueller Erkenntnis und kollektiver Erfahrung, die gezeigten Filme handeln von totalitärer Unterdrückung und Versuchen der Demokratisierung. Unter dem Titel „Hartnäckige Erinnerungen - Demokratie und Diktatur in Lateinamerika“ zeigt das 3001 elf Arbeiten aus Chile und Argentinien, Ländern also, deren jüngste politische Vergangenheit stark durch sozialistische Ideale und deren Unterdrückung durchs Militär geprägt wurde. Die aktuelle Diskussion um die Inhaftierung und die selbstauferlegte impunidad, die Straflosigkeit des Diktators Pinochets, zeigt dies deutlich.

Neben den Widerstands-Klassikern Süden (1988), Schlacht um Chile (1973) und Die Stunde der Feuer (1968) offenbart der chilenische Regisseur Gonzalo Justiniano in Gedächtnisschwund die Absurdität von Gewalt und Gegengewalt am Beispiel des einst gequälten Soldaten Ramirez, der seinen Peiniger aufsucht, um Vergeltung einzufordern. Doch Aug' in Aug' mit dem Zerstörer seines Lebens wird ihm die Fatalität seines Vorhabens bewußt.

Auch Ramiro muß sich umorientieren. Vom Pinochet-Regime mit Verbannung bestraft, gelingt es dem ehemaligen Mathematiklehrer in Ricardo Lorrains Die Grenze mit Hilfe neuer Freunde, der psychischen Katastrophe zu entkommen und ein neues Lebensgefühl zu entwickeln. In seiner Dokumentation Chile, das unbeugsame Gedächtnis zeigt Patricio Guzman, der auch Die Schlacht um Chile gedreht hat, Zeitzeugen, die sich ohne Larmoyanz und Sentimentalität an den Anschlag auf Präsident Allende und die anschließende Machtübernahme durch das Militär im Jahr 1973 erinnern und die Schwierigkeit eines kollektiven Memorierens bloßlegen.

Die argentinischen Produktionen widmen sich Menschen, die ihre Zeiten innerhalb des aktiven Widerstands reflektieren oder an den Orten der eigenen Vergangenheit einen Neuanfang wagen. Jäger der Utopien ist ein dokumentarischer Zusammenschnitt aus über 80 Stunden Interviewmaterial, in dem sich 33 Beteiligte an die eigene Entwicklung erinnern, die mit der Politisierung ihrer Jugend begann, sich im Militärputsch und Gefangenenlager fortsetzte und mit dem demokratischen Neuanfang endete. Adolfo Aristarain skizziert so eine „Wiedergeburt“ anhand seines Helden Ernesto, der in Ein Ort auf dieser Welt von 1992 nach den Jahren im spanischen Exil in sein argentinisches Heimatdorf zurückkehrt und seinen alten Träumen neues Leben einhaucht.

Der ungewöhnlichste Beitrag ist vielleicht Blutige Tinte, eine 70minütige Dokumentation über die argentinische Sensationspresse, für die sich die Bedeutung einer Nachricht nach der Anzahl der Leichen richtet. In einer Mischung aus Ersatz-Seelsorge und Katastrophenjournalismus lassen die Filmemacher Carmen Guarini und Marcelo Céspedes die Medienleute als aufgeklärte und zugleich kaltblütige Regisseure von Information und Alltag schalten und walten. Freiheit ist hier ein Wolf im Schafspelz.

Wach auf, Liebe: Do, 3., 20 Uhr; Sa, 5., 20 Uhr; Mo, 7., 20 Uhr; So 13. Dezember, 18 Uhr. Jäger der Utopien: Fr, 4. Dezember, 20 Uhr. Ein Ort auf dieser Welt: Di, 6., 20 Uhr; Mi, 7. Dezember, 20 Uhr. Die Schlacht um Chile: Do, 10. Dezember, 18 Uhr. Gedächtnisschwund: Do, 10., 20 Uhr; Fr, 11. Dezember, 18 Uhr. Die Grenze: Fr, 11., 20 Uhr; Sa, 12. Dezember, 18 Uhr. Blutige Tinte: Sa, 12. Dezember, 20 Uhr. Chile, das unbeugsame Gedächtnis: So, 13. Dezember, 20 Uhr. Süden: Mo, 14., 18 Uhr; Di, 15. Dezember, 20 Uhr. Die Stunde der Feuer: Mi, 18 Uhr (Teil eins); 19.30 Uhr (Teil zwei); 21.30 (Teil drei). Weitere Infos unter Tel.: 43 76 79