Ein Dach über dem Kopf ist kein Zuhause

Seit über zehn Jahren bewegt sich der obdachlose „Professor“ (53) zwischen Sozialeinrichtungen, Buchhandlungen und der Bahnhofsmission. Nachts schläft er im Keller eines Studentenwohnheims. Trotzdem ist er optimistisch: „Es kann nur besser werden“  ■ Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova

Schon bevor das Fenster aufgeht, weiß Michael S., was es geben wird: „Lauwarmen Tee, ein trockenes Brötchen und eine Wurst.“ Für den Tee hat er einen Plastikbecher in der Manteltasche. So spart er zwei Mark Pfand, das die Bahnhofsmission am Zoo auf ihre Becher erhebt. Als das Fenster kurz vor Mitternacht geöffnet wird und der 53jährige an der Reihe ist, nimmt er in Empfang, was er prognostiziert hat. „Siehste, der Tee ist wieder nur lauwarm“, sagt er.

Weil die Bahnhofsmission nachts nur die Fensterluke öffnet, müssen die Obdachlosen, die sich manchmal schon eine halbe Stunde vor der Essensausgabe anstellen, draußen essen. Und weil sie in der Bahnhofshalle nicht geduldet werden, nutzen sie die leeren Schließfächer um die Ecke als Ablage. Michael S. nimmt das erste, direkt am Ausgang. Da, wo der Wind besonders stark zieht. Er will sich nicht länger aufhalten als unbedingt nötig. Er ist wegen des kostenlosen Essens gekommen. Mehr nicht. Schweigend ißt er seine Portion, holt sich einen Nachschlag und ein Stück Kuchen.

Um ihn herum stehen Männer, die wie er obdachlos sind. Doch außer dem gleichen Schicksal haben sie nichts gemeinsam. Den anderen ist die Obdachlosigkeit anzusehen. Die Sachen speckig, der Geruch streng. In Berlin leben nach Angaben der Senatsverwaltung für Gesundheit schätzungsweise zwischen 2.000 und 4.000 Menschen auf der Straße, für die tagsüber über 3.000 Plätze in Wärmestuben und Cafés zur Verfügung stehen und nachts 837 Notübernachtungsplätze. Für die, die nicht in der Lage sind, sich selbst einen Schlafplatz zu suchen, gibt es den Kältebus der Berliner Stadtmission, der die Leute nachts von der Straße aufsammelt, seitdem vor fünf Jahren ein Obdachloser erfroren ist.

Fünf Tage in der Woche, von Sonntag bis Donnerstag, klappert der Bus den oberen Ku'dammbereich, die Bahnhöfe Zoo und Lichtenberg, die öffentlichen Toiletten in der Joachimstaler Straße und Eingänge von Kaufhäusern ab. „Wir fahren mit Absicht nicht sieben Tage die Woche“, sagt Ortrud Kubisch von der Stadtmission. Der Kältebus sei „kein Taxi, um Leute bequem in Notübernachtungen zu bringen“, sondern eine Hilfe für Menschen, die nicht mehr für sich sorgen können. In den fünf Wintermonaten des vergangenen Jahres waren das 2.150 Personen.

Michael S. ist kein Fall für den Kältebus. Er kommt allein klar. In eine „Läusepension“ würden ihn keine zehn Pferde kriegen. „Dort mußt du deine Persönlichkeit an der Tür abgeben“, sagt er. Das kann er sich nicht leisten. Seine Persönlichkeit ist das einzige, was sich der gelernte Dekorateur und Drucker aus seinem früheren Leben bewahrt hat. Deshalb würde er auch seine wenigen Habseligkeiten nie in einer Plastiktüte mit sich herumtragen. Er hat sie in einer Beratungsstelle deponiert. Einen „Aldi-Koffer“ würde er nur tagsüber benutzen. Wie jemand, der seine Einkäufe nach Hause trägt.

„Läusepensionen“ sind Übernachtungsangebote „mit niedrigem hygienischen Niveau“. Das heißt: Isomatten auf blankem Linoleumboden. Haustiere und Alkohol sind in der Regel tabu, meist wird nach 22 Uhr niemand mehr aufgenommen. Die einzige Notübernachtung, die Obdachlose ohne jegliches Wenn und Aber aufnimmt, ist die der Stadtmission, die sich seit 122 Jahren „um Menschen ohne Wohnung und ohne innere Heimat“ kümmert. „Bei uns wird jeder genommen, mit welchem Problem auch immer“, sagt Ortrud Kubisch. Selbst vor Entlausungen schrecken die Mitarbeiter in der Notübernachtung in Tiergarten nicht zurück. „Darin sind sie Experten“, so Ortrud Kubisch. Die Angst vieler Obdachloser, aus einer „Läusepension“ mit weniger Habseligkeiten herauszugehen, als sie hereingebracht haben, sei bei der Stadtmission unnötig, betont Kubisch.

Daß Not nicht unbedingt solidarisch macht, weiß Michael S. längst. Als er 40 Jahre war, geriet sein Leben durcheinander. Der Scheidung und dem Tod der Mutter im gleichen Jahr folgte ein Streit mit der Stiefschwester um das Erbe, der nicht zu seinen Gunsten ausging. Freunde in der Not waren nicht zur Stelle. „Ich war an meine Grenzen gestoßen.“ Michael S. verlor seinen Job und die Wohnung. Seitdem lebt er von Arbeitslosenhilfe, für deren Bezug er eine Schein-Meldeadresse hat. Kontakte zu seiner Ex-Frau, den Kindern und der Stiefschwester gibt es nicht mehr. Eine feste Bleibe hat er auch nicht.

Das müssen Außenstehende nicht unbedingt merken, findet er. Deshalb geht er regelmäßig in eine der etwa einhundert kirchlichen und bezirklichen Anlaufstellen, wo er duschen und seine Wäsche waschen kann. Mantel, Jackett, Hose, Hemd, Pullover und Schuhe sind nicht die modernsten, doch sie sind sauber. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, daß die Hose etwas zu kurz ist und die Haare etwas zu lang sind. Und wenn er spricht, verrät der einzige verbliebene Schneidezahn, daß er jahrelang keinen Zahnarzt gesehen hat.

Was man ihm nicht ansieht, ist, daß er zur Zeit ohne einen einzigen Pfennig Unterstützung auskommt. Vor einigen Wochen wurde er beim Schwarzarbeiten als Kellner erwischt. Deshalb wurde ihm die Arbeitslosenhilfe zeitweise gestrichen. Irgendwie schafft er es, über die Runden zu kommen. Um sich einen neuen Schlafsack kaufen zu können, hat er vor wenigen Tagen ein Platinarmband mit Diamant ins Pfandhaus gebracht. Ein schlechtes Geschäft: Das Geschenk des Schwiegervaters hat mal 2.200 Mark gekostet, im Leihhaus war es 220 Mark wert. Dreimal am Tag geht er zu Sozialeinrichtungen zum Essen. Die Zeit dazwischen ist klar eingeteilt: Jeden Tag das gleiche. Die Vormittage verbringt er in einem Musikkaufhaus mit Videospielen, die Nachmittage im Kulturkaufhaus Dussmann in der noblen Friedrichstraße. Abends guckt er auf der großen Leinwand im Bahnhof Zoo Nachrichten, bis 22.30 Uhr die „Klappe“, das Fenster der Bahnhofsmission, aufgeht. „Diese Monotonie geht mir auf den Sack“, sagt er.

Sooft es geht, versucht er die Routine zu durchbrechen. Es sei eine Frage der Organisation, beim Sozialamt eine Kinokarte zu ergattern. Manchmal hat er auch Glück. So wie neulich, als er einen russischen Künstler kennenlernte, der ihn ins Theater mitnahm. Nur tanzen war er schon lange nicht. Ohne Anzug und Krawatte kann er das vergessen. Zumindest kommt er in öffentliche Veranstaltungen, wo über den Euro oder das Berliner Abgeordnetenhaus diskutiert wird. Stolz erzählt er, wie er, ein Obdachloser, bei der feierlichen Eröffnung des Potsdamer Platzes dabei war. Von den anderen Obdachlosen wird er „der Professor“ genannt.

Am längsten sind die Nächte. Michael S. muß sich zwar nicht jeden Tag aufs neue den Kopf darüber zerbrechen, wo er unterkommen wird, weil er einen Schlafplatz hat.

Doch den kann er erst nach Mitternacht aufsuchen. Erst dann ist die Luft rein. Seit anderthalb Jahren verbringt er die Nächte im Keller eines Studentenwohnheims, dessen Örtlichkeiten er seit der Liaison mit einer Studentin „vor einigen Jahrzehnten“ kennt. Versteckt hinter einem Treppenabsatz, gibt es einen kleinen Zwischenraum, von dem eine Tür zum Lagerraum einer angrenzenden Kantine geht. Weil die erst um Mitternacht zumacht, muß er sich die Nächte draußen um die Ohren schlagen.

Ist die Luft rein, breitet er seine Pappen und den Schlafsack auf dem Boden aus. Tagsüber versteckt er die Sachen hinter einer Tür. Außer einem Aschenbecher auf dem Sicherungskasten gibt es nichts, was seine nächtlichen Besuche verraten könnte. Nicht selten schläft er mit Musikbegleitung ein. Denn wenige Meter von seinem Schlafplatz entfernt, befindet sich ein Übungsraum, in dem Musikstudenten bis nach Mitternacht das Klavier oder die Querflöte bearbeiten. „Manchmal klingt es grausam“, sagt Michael S. Doch wenn sie fortgeschritten sind, sei es richtig schön. Die Studenten wissen von ihrem nächtlichen Besucher und sind sehr entgegenkommend, erzählt er. Nur vor dem Hausmeister muß er sich in acht nehmen. „Dem darf ich nicht über den Weg laufen.“

Keinem anderen Obdachlosen würde er sein Quartier verraten. So dumm war er nur einmal, als er in einem Bürohaus „in bester Ku'dammlage“ schlief. Mit Heizung und Teppichboden. „Vom Feinsten.“ Doch der Kumpel, den er mitgenommen hatte, randalierte im Suff, und so flogen beide raus.

„Der Professor“ arrangiert sich mit seiner Situation, doch abfinden will er sich damit nicht. Denn: „Letzten Endes hängt man doch an seinem beschissenen Leben.“ Natürlich sei es „sauschwer“, damit klarzukommen. Gerade jetzt, kurz vor Weihnachten. „Wenn ich schmusende Pärchen sehe, tut das schon weh“, sagt er. „Ich bin doch nicht jenseits von Gut und Böse.“ Doch er macht sich nichts vor. Bevor er an eine Beziehung denken kann, muß er seine eigene Situation auf die Reihe kriegen.

Immer mal wieder habe er einen Neustart probiert. „Aber das ist alles nicht so einfach.“ Mehr will er dazu nicht sagen. Er weiß nur, daß er nicht zeit seines Lebens als Bittsteller von Ämtern abhängen will. Und daß die Politik das Thema Obdachlosigkeit nicht dauerhaft ignorieren kann. „Das ist doch nicht nur im Winter ein Thema“, regt er sich auf und meint damit auch die Medien.

Sein Hoffnungsschimmer: eine vage Aussicht auf einen Job als Hausmeister. Seine Befürchtung: Er könnte zu alt sein für die Arbeit. Seine einzige Gewißheit: „Das hier ist nicht das Nonplusultra. Es kann nur besser werden.“