Was tun, wenn die Jugend immer weniger wird?

■ Deutsche Jugendforscher versuchten vergeblich, ihrem Gegenstand auf die Spur zu kommen

München (taz) – Die Jugend wird immer kleiner. Kein Wunder, daß das 13. Symposium des Deutschen Jugendinstituts (DJI) in München zum Thema „Die Gesellschaft und ihre Jugend“ enorme Schwierigkeiten hatte, den Forschungsgegenstand in den geforderten inhaltlichen Kategorien „Beteiligung, Abgrenzung, Ausgrenzung“ dingfest zu machen. Waren 1950 noch ein Drittel der deutschen Bevölkerung unter 20 Jahre alt, sind es heute nunmehr ein Fünftel und in 40 Jahren sogar nur noch 14 Prozent. „Die Jugend verliert an Mehrheitswert und gewinnt an Seltenheitswert“, stellte der Soziologe Karl-Otto Hondrich daher fest – und das hat Folgen.

Der Frankfurter Wissenschaftler vermittelte den Teilnehmern des bundesweiten Symposiums einen ungewöhnlichen Blickwinkel. Der „vitalste, sich am stärksten zeigende Teil der Gesellschaft“ werde immer mehr zu einer Minderheit, deren Probleme in den Medien „immer greller“ gezeichnet werden würden. Die Jugend erscheine daher „immer anormaler und merkwürdiger“. Und: „Wenn die Jugend unsere Zukunft ist, dann ist derzeit nur jedes siebte Mitglied unserer Gesellschaft ein Zukunftsträger.“ Also eine Gesellschaft ohne Zukunft?

Für Hondrich hat das Zahlenverhältnis zwischen Jung und Alt Auswirkungen auf allen Ebenen, die durch keinerlei Gegenmaßnahmen aufgehoben werden könnten. Mit einer einfachen statistischen Berechnung („In Deutschland scheut man die einfache Einsicht“) zeigte er auf, daß die Zahl der Kontakte der Jungen zu den Älteren immer mehr stiegen, die der Älteren zu den Jüngeren jedoch abnähmen. Dadurch lerne die Jugend weit mehr über die Älteren als umgekehrt. Dieses „strukturelle Mehrwissen“ wolle die Jugend jedoch nicht, also ziehe sie den Älteren Grenzen und sich in abgeschlossene Jugendkulturen zurück. „Frühere Gesellschaften haben die Jugend ausgegrenzt, heute grenzt die Jugend die Gesellschaft aus.“ Hondrich verspürt das auch am eigenen Leib: „Meine beiden Kinder grenzen mich oft aus.“

Schon immer, so der Soziologe, war zudem die rebellierende, aufbegehrende Jugend wichtig für die Weiterentwicklung der Gesellschaft. „Jugendgewalt ist das beunruhigende und bewegende Ferment der Gesellschaft.“ Was tun aber, wenn die Jugend immer weniger wird? Die Gesellschaft, so Hondrich, bediene sich dreier Möglichkeiten: Man weitet den Gewaltbegriff aus, verschärft die Wachsamkeit und importiert Jugendgewalt durch „jugendliche Migranten, die hier doppelt, als Jugendliche und Fremde, auffallen“.

Hatte Hondrich das Publikum eingangs gewarnt, die Sinnfrage für seine Thesen zu stellen, stellte am Ende gleich niemand eine Frage. Überhaupt waren Diskussion und Streit beim Symposium des in München und Leipzig ansässigen Instituts, das vom deutschen Wissenschaftsrat wegen seiner „wissenschafts- wie auch praxisorientierten Arbeit“ als „einzigartig“ geschätzt wird, nicht vorgesehen. Weder die Ergebnisse der neuesten DJI-Studie zur politischen Beteiligung von Migrantenjugendlichen konnten vertieft werden, noch fand die Analyse eines DJI- Forschers zur Entstehung von Fremdenfeindlichkeit als „Mixtur von frühangelegten, vielleicht sogar genetischen und pränatalen Elementen“ Widerspruch. Alles ist anscheinend offen.

Nur eine Diskussion ergab sich. Die Einstellung, wonach Bildung ein Allheilmittel zum Abbau von Ungleichheit und zur Verbesserung von Zukunftschancen sei, wollte Hondrich so nicht stehenlassen. Je mehr man die Bildung steigere, produziere man dadurch auch diejenigen, die den Anforderungen nicht genügten, gab er zu bedenken. Ein DJI-Mitarbeiter löste auch dieses Dilemma: „Laßt uns doch ein Symposium zur Frage ,Was ist Bildung‘ machen.“ Vielleicht 1999. Bernd Siegler