Gegen die Hermeneutik des Mißtrauens

■ Historikerpreisträger Jan Assmann wirft Martin Walser die falsche Verwendung von Sprache vor

taz: Wie kommt ein Ägyptologe dazu, sich zur Erinnerung an den Holocaust und Martin Walsers Rede zu äußern?

Jan Assmann: Als Ägyptologe kann man sich mit den Mechanismen kollektiver Erinnerung beschäftigen, Fragen der Überlieferung und Monumentalisierung. Ägypten steht uns mit einer Fülle von Monumenten und Texten vor Augen. Die Kontroverse zwischen Walser und Bubis ist lehrreich für die Beschäftigung mit dem kulturellen Gedächtnis.

In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Historikerpreises haben Sie davon gesprochen, daß Erinnerungen, die über eine Gesellschaft Aufschluß geben, von anderer Art sind, als jene Privatsache, von der Walser gesprochen hat. Wie ist diese Unterscheidung zu verstehen?

Erinnerungen, hat Octavio Paz gesagt, geben über eine Gesellschaft mehr Auskunft als ihre Vorhaben. Um Auskunft geben zu können, müssen sie öffentlich sichtbar werden und dürfen keine Privatsache bleiben. Das kulturelle Gedächtnis entsteht immer zwischen Menschen, nicht allein in ihnen. Zwischen dem, was man in sich trägt, und dem, was in der Kommunikation sich im gemeinsamen Reden dann an kollektiver Perspektivierung herausbildet, ergibt sich oft ein Konflikt zwischen der Vergangenheit, wie sie erlebt wurde, und einer Vergangenheit, die sich nachträglich in ihrer Gerichtetheit, ihrem Hinauslaufen auf Auschwitz, rekonstruieren läßt.

In der Diskussion zwischen Walser und Bubis scheinen viele einen rituellen Umgang mit der historischen Schuld zu fürchten. Wäre ein ritueller Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust zwangsläufig etwas Schlechtes?

Nein, überhaupt nicht. Es handelt sich um ganz unvermeidliche, notwendige Ausdrucksformen kollektiven Vergangenheitsbezugs. Was wir seit etwa zehn Jahren erleben, ist der Übergang der persönlichen in eine kulturelle Erinnerung. Da ereignet sich gerade ein ganz typischer Prozeß, der etwa 40 Jahre braucht, weil das die Spanne ist, in der eine Zeitzeugengeneration alt wird. Die Erinnerung, die sowohl bei uns als auch in Israel und Amerika Gegenstand lähmenden und gelähmten Schweigens war, dringt nun seit 1985 verstärkt in die Öffentlichkeit. Das fängt gerade erst an. Gemessen an der Ungeheuerlichkeit dessen, was da zu erinnern ist, darf man davon ausgehen, daß sich der Prozeß noch verstärken wird. Walser hat den Fehler gemacht, seine Beobachtungen auf die Medien zu reduzieren. Aber der Prozeß wird sich auf vielen Ebenen verstärken, von der politischen, künstlerischen, wissenschaftlichen bis hin zur Stammtischebene. Es ist illusorisch, den Prozeß des Nach-außen- Dringens von Erinnerung zu diskriminieren als rituelle Routine oder moralische Indoktrination.

Wenn es zwecklos ist, die Entwicklung zu denunzieren, kann man sie zum Projekt machen?

Man muß sich über sein Verhalten natürlich Gedanken machen, zum Beispiel über die Verwendung von Sprache. Ich halte das Wort „Schande“, das Walser gebraucht hat, für keinen glücklichen Ausdruck. Schande ist etwas, das in Sprachlosigkeit mündet. Schande kann man nicht bearbeiten. Man muß über Auschwitz reden können, ohne als Meinungspolizist denunziert zu werden. Es ist unsere Pflicht, Auschwitz in der Geschichtskultur, im Schulunterricht, in Denkmälern und vielen anderen Medien präsent zu halten. Daß das zur Routine verkommt, glaube ich nicht. Das, was man unter Vergangenheit versteht, muß immer neu ausgehandelt werden. Es gibt in dieser Frage kein heilsames Schweigen.

Sollte man auch von Bubis mehr Gelassenheit erwarten?

Bubis muß seine Position, die Position der Juden in Deutschland, repräsentieren. Er vertritt eine Stimme. Er hat das Recht, sie zu vertreten, und er hat das Recht, einseitig zu sein. Man muß Bubis aus seiner besonderen Position heraus verstehen. Die jüdische Erinnerungskultur speist sich aus religiösen Imperativen des Nicht-Vergessen-Dürfens. Diese Problematik hat im Judentum einen anderen Stellenwert als in der deutschen Tradition. Daß er diese Stimme immer wieder zu Gehör bringt, ist völlig in Ordnung. Aber er sollte auch mehr Sinn für die Polyphonie entwickeln und die anderen Stimmen gelten lassen. Die Hermeneutik des Mißtrauens, die alles erst einmal gegen den Strich liest und alles Gesagte auf negative Aspekte hin abklopft, diese Rhetorik der Verdächtigung sollte er aufgeben. Interview: Harry Nutt