: Teaching Holocaust
■ Lutz van Dijk vermittelt auch der „Ich kann es nicht mehr hören“-Generation Erfahrungen mit Anne Frank
Täglich kommen 2.000 überwiegend jugendliche BesucherInnen ins Anne-Frank-Haus in Amsterdam. Viele von ihnen sind Deutsche. Und einige von ihnen empfängt Lutz van Dijk, der gestern im Bremer Schnürschuh-Theater Lectures zum Thema „Anne Frank im Unterricht“ hielt. Der gebürtige Berliner ist ausgebildeter Lehrer, erfolgreicher Jugendbuchautor und will in seinem Brotberuf erreichen, daß Jugendliche zwischen Museums- und Mac-Donalds-Besuch neue Erfahrungen mit Anne Frank machen.
taz: Vor ein paar Monaten hat sich ein Radio-Moderator im ARD-Nachtprogramm abfällig über Anne Frank geäußert.
Lutz van Dijk: Was hat der gesagt?
Er hat unter anderem gesagt, daß er Anne Frank hasse und ihr Bild nicht mehr sehen kann. Kennen Sie solche Überdruß-Äußerungen?
Natürlich kenne ich die, aber ich kann sie nicht immer gleich bewerten. Es kann Äußerungen geben, für die ich pädagogisches Verständnis habe: Wenn Jugendliche auf eine Weise mit dem Thema konfrontiert worden sind, über die ich auch denke: So möchte ich damit auch nicht konfrontiert werden. Auf der anderen Seite finde ich, daß diese Zeit uns bis heute wie ein Brennglas herausfordert. Ich sehe im europäischen Kontext nicht viele historische Situationen, die einen so deutlich mit der Frage konfrontieren, wie ich mich selbst verhalten hätte.
How to teach the Holocaust? Wie kann man das Thema unterrichtsfähig machen?
Ich will mit etwas ganz Banalem anfangen: Wenn wir die heutigen Erfahrungen von Jugendlichen nicht zum Ausgangspunkt machen, werden wir sie nicht kriegen. Dann werden sie sagen: „Mensch, das haben wir doch schon hundert Mal gehört. Bitte nicht schon wieder 3. Reich oder KZ.“ Das sind Signale für unangenehme Erfahrungen. Und da ist deutlich etwas schief gelaufen. Wir dagegen gehen von Fremdheitserfahrungen aus und kommunizieren darüber: Wo habe ich mich mal ausgeschlossen und allein gelassen gefühlt? Wie habe ich das bewältigt? Hat mir jemand geholfen? Vor dieser Folie kann man die Lektüre des Tagebuchs ganz anders erleben. Dann plaziere ich es nicht mehr vor einem historischen Kontext. Denn für Schüler ist es egal, ob das 150 oder 100 oder 50 Jahre her ist, das ist alles gleich weit weg.
Das Tagebuch der Anne Frank wird weiterhin von vielen Menschen gelesen. Und es gibt viele Jugendliche, die sich stark mit Anne Frank identifizieren. Was halten Sie davon?
Wir vermeiden, Anne zu irgendeiner Heldin zu machen. Anne war damals ein ganz gewöhnliches Mädchen. Das einzig besondere ist, daß sie es durch ihr Tagebuch geschafft hat, ihre Erfahrungen so anschaulich zu schildern, daß es vielen Jugendlichen einen Zugang ermöglicht, den trockene Geschichtsbücher nicht ermöglichen. Sie erzählt ja auch die Vorgeschichte des Holocaust. Und mit der Verschleppung bricht es ab.
Das ist genau das Problem des Tagebuchs oder seines Erfolgs. Es erzählt die Vorgeschichte.
Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, daß in jedem Land die Rezeption des Tagebuchs anders ist. In den Niederlanden hat eine starke Identifikation mit den Helferinnen und Helfern eine Rolle gespielt. In Deutschland fraglos die Rolle eines sympathischen Mädchens, das unschuldig ist. Und dadurch ist vielen Menschen ein leichter Einstieg möglich, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen – und nicht gleich mit den schlimmsten Schrecken der Konzentrationslager. In unserem Haus wird aber auch sehr ausführlich über den Holocaust informiert. Aber gerade in der pädagogischen Arbeit ist uns im Gegensatz zur politischen Arbeit mit Erwachsenen wichtig, daß Kinder und Jugendliche in hohem Maße selbst bestimmen, wie weit sie gehen und was sie wissen wollen.
Wie steuern Sie das?
Die meisten deutschen Jugendlichen kommen während einer Klassenfahrt. Da steht dann meistens ein Tag Amsterdam auf dem Programm. Sie kommen mittags ins Anne-Frank-Haus, bleiben zwei Stunden da und gehen dann zu McDonalds. In diesen zwei Stunden sollen sie in den Räumen möglichst viel selbst entdecken. Es gibt da die Bleistiftstriche, mit denen Otto Frank das Wachstum seiner beiden Töchter Margot und Anne dokumentiert hat. Das sollen die Kinder und Jugendlichen selbst finden und schließlich eine Erfahrung mitnehmen. Fragen: ck
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