Vom Fluch, das Private zu politisieren

Nichts ist unpolitisch, behaupteten vor allem die Frauen der Achtundsechzigerbewegung. Vor allem das Private durfte nicht mehr privat sein. Erst mit diesem Trick konnten sexueller Mißbrauch, Vergewaltigung oder Gewalt in Familien thematisiert werden. Ausgerechnet die Konservativen in den USA haben diese Haltung genutzt – gegen US-Präsident Bill Clinton. Seiner Sozialpolitik hatten sie nichts entgegenzusetzen. Deshalb unterzogen sie sein Privatleben einer inquisitorischen Prüfung. Über die Mechanisme, mit denen die öffentliche Phantasie politisch instrumentalisiert wird  ■ Christina von
Braun

Vor dreißig Jahren brachten einige rote Tomaten Unruhe in die Geschlechterordnung. Heute bringen einige Samenflecken Unruhe in die politische Ordnung. Diese Flecken sind wiederum das Resultat der bewegten Tomaten, die 1968 geworfen wurden. Das zeigen einige Aspekte der Clinton-Lewinsky-Affäre. Die Konsequenzen gehen weit über den rein amerikanischen Zusammenhang hinaus. Sie verweisen auf Entwicklungen, die auch für andere westliche Demokratien symptomatisch sind.

Als er das Amt übernahm, wurde Präsident Clinton von vielen für das – wenn auch verwässerte – Produkt der Hoffnungen gehalten, die seit 1968 im politischen Raum standen. Clinton, der sich für Frauenrechte sowie für gay und lesbian rights einsetzte, schien das umsetzen zu wollen oder zu können, was über Jahre in der Opposition nicht nur Gedankengut war, sondern auch schon längst gelebt wurde.

In den dreißig Jahren seit 1968 ist in fast allen westlichen Demokratien eine gespaltene Gesellschaft entstanden, in der einerseits die alten Werte hochgehalten werden, etwa die traditionelle Familie, andererseits aber auch nach neuen und anderen Werten gelebt wird. Es hat sich ein neues Verständnis von Familie durchgesetzt, in dem die Blutsverwandtschaft keine ausschlaggebende Rolle mehr spielt. Daneben hat sich auch der Gedanke durchgesetzt, daß es für die Sexualität keine Regeln gibt. Zudem ist die Unterscheidung zwischen männlich und weiblich einer zunehmenden Grenzverwischung gewichen.

Man muß sich klarmachen, daß eine solche Entwicklung etwas vollkommen Neues darstellt. In allen Gesellschaften – archaischen wie historischen – stehen die Gesetze, die das Sexualleben der Menschen regulieren, im Zentrum des Moral- und Gesetzeskodex. Sie bilden gleichsam den Kern, der über die Organisation der Gesellschaft bestimmt. In den Industrieländern jedoch – insbesondere seit 1968 – gibt es keine genauen Regeln mehr, nach denen der einzelne oder die einzelne ihr Geschlechtsleben zu organisieren hat. Nicht, daß es keine Gesetze mehr gäbe – es gibt sie, und gelegentlich – wie etwa in Memmingen vor einigen Jahren beim Prozeß gegen einen Arzt, der Abtreibungen vornahm – greifen sie auch ins Leben von Menschen ein. Aber das ist fast zur Ausnahme geworden. Das Sexualleben gilt als Privatsache, in der der Staat nichts zu suchen hat.

Nun wird aber im Falle Clintons das Sexualleben gerade nicht als Privatsache behandelt – ein Phänomen, das man etwa auch an der regen Aufmerksamkeit für das Sexualleben des britischen Königshauses beobachten kann. Das heißt, es gibt eine Diskrepanz zwischen der allgemeinen Entwicklung und der Art, wie mit den höchsten Repräsentanten des Staates umgegangen wird.

Der Historiker Ernst Kantorowicz hat in seinem Buch „Die zwei Körper des Königs“ dargestellt, daß das Konzept der repräsentativen Herrschaft vom Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit immer beinhaltete, daß der Herrscher einerseits als Repräsentant der Nation und des Staates den Kollektivleib „verkörpert“. Dieser Körper ist unsterblich, geschlechtslos und ohne Makel. Andererseits verfügt der König aber auch über einen Körper, dem alle Charakteristika normalen Menschseins eigen sind. In der Öffentlichkeit wurde er nur mit seinem unsterblichen, repräsentativen Körper wahrgenommen.

Diese Vorstellung von den zwei Körpern des Königs hielt sich lange. Ohne daß es in den heutigen Demokratien eine entsprechende Rechtskonstruktion gäbe, ist es noch immer ein ungeschriebenes Gesetz, daß das Sexualleben von Politikern und politischen Führungskräften für Presse und Medien tabu bleibt.

Die Clinton-Affäre offenbart, daß die Konstruktion von den zwei Körpern des Königs durch das mediale Netz einen grundlegenden Wandel erfahren hat. Daß es sich bei dieser Affäre um ein Medienereignis handelt, zeigen viele Begleitumstände: Der Starr-Report wurde ins Internet gegeben, noch bevor ihn die Anwälte des Präsidenten zu sehen bekamen. Das vierstündige Hearing wurde von mehreren nationalen TV-Stationen in voller Länge ausgestrahlt. Auch die Anhörung selbst war insofern ein mediales Ereignis, als die Kommissionsmitglieder den Präsidenten nicht in leiblicher Person befragten, sondern per Monitor mit ihm sprachen.

Diese Inszenierung erscheint wie der Versuch, dem König wieder zwei Körper zu geben: neben dem realen oder leiblichen auch einen medialen. Paradoxerweise war es aber dieser zweite, mediale und repräsentative Körper, der nach privaten Details befragt wurde.

Beobachter aus den USA unterstellen, daß es sich bei dem Impeachment-Verfahren um einen Backlash gegen die Achtundsechziger handelt. Dabei wurde aber paradoxerweise eine Errungenschaft der Frauenbewegung zum Ausgangspunkt des Verfahrens. Man erinnert sich: Paula Jones hatte Präsident Clinton der sexuellen Belästigung beschuldigt. Er stritt ab und wurde gefragt, ob er sich im Weißen Haus außerehelicher Beziehungen schuldig gemacht habe. Auch das bestritt er und machte dabei unter Eid eine Falschaussage, wie er später öffentlich und vor laufenden Kameras zugeben mußte.

Damit hatte Clinton nicht nur einen Rechtsbruch, sondern auch einen politischen Fehler begangen. Er hatte sich auf den Sittenkodex einer politischen Fraktion eingelassen, die das Sexualverhalten wieder strengeren Regulierungen unterwerfen wollte. Daß sich die Konservativen dabei der Mittel der Frauenbewegung bedienten, ist einer der vielen Widersprüche dieser Affäre. Denn die Erfassung der sexuellen Belästigung als juristischen Tatbestand ist unbestreitbar eines der Resultate der Frauenbewegung.

Waren Sexualfragen immer schon ein Mittel, Politik zu betreiben, so offenbart sich hier eine neue Entwicklung. Ein Beispiel für den traditionellen Umgang mit Sexualfragen: Die USA haben seit fast drei Jahren keine Beiträge an die Vereinten Nationen abgeführt. Clinton unternahm wiederholt den Versuch, die Schuld zu begleichen, wurde aber durch die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus daran gehindert.

Kürzlich stand die Freigabe der Mittel erneut zur Abstimmung an. Doch die Clinton-Opposition koppelte das Votum mit einem anderen, durch das Familienplanungsorganisationen, die sich für Schwangerschaftsabbruch einsetzen, die Subventionen entzogen worden wären. Die Demokraten mußten gegen die Vorlage stimmen. Während hierbei die Einschränkung der Frauenrechte instrumentalisiert wurde, bedient sich die konservative Fraktion im Fall des Impeachment-Verfahrens gegen den Präsidenten einer erfolgreichen Strategie der Frauenbewegung.

Mehr noch als diese Paradoxie gibt jedoch ein anderer Aspekt Anlaß zur Nachdenklichkeit. Es geht um das Verschwinden der Differenz zwischen Privatleben und Öffentlichkeit. Der Zeitgeist des Mai '68 trug erheblich dazu bei, daß das Private als politisch verstanden wurde. Allmählich aber, so scheint es, verkehrt sich genau dieser Aspekt in sein Gegenteil. Indem das Private politisch wurde, öffneten sich auch die Schleusen für eine Besetzung des Privaten durch den öffentlichen Raum.

Diese Entwicklung war schon den Schauprozessen der vierziger und fünfziger Jahre inhärent, in denen Sexualvorwürfe nur eine untergeordnete Rolle spielten. In der aktuellen Situation scheint das pornographische Element stärker in den Vordergrund gerückt zu sein. Dabei spielen die medialen und visuellen Techniken, die zu Zeiten Hitlers und Stalins überhaupt erst ihre öffentliche Wirkung zu entfalten begannen, eine zentrale Rolle.

Auch die Schauprozesse der vierziger und fünfziger Jahre waren schon Medienereignisse. So wie die Hearings heute, wurden auch sie gefilmt, um die Angeklagten der Öffentlichkeit „vorzuführen“ – und schon damals verfehlten die Aufnahmen die beabsichtigte Wirkung. Die von den Angeklagten des 20. Juli erregten Mitleid und wurden öffentlich nie gezeigt, weil die Nazis eine Identifizierung mit den Angeklagten befürchteten. Die Filmaufnahmen von den Prager Schauprozessen schürten gar den Widerstand gegen das Regime.

Auch die Ausstrahlung der Hearings von Clinton hatte einen Anstieg seiner Popularität zur Folge. Wie es scheint, verleitet das dokumentarische Bild im öffentlichen Raum weniger zu einer Identifizierung mit dem Blick der Kamera, das heißt mit dem Blick des Anklägers, als zu einer Identifizierung mit dem Objekt dieses Blicks. Darüber hinaus scheint die Sexualität eine wichtige Rolle zu spielen. Die positiven Ergebnisse der Demokraten bei den Parlamentswahlen am 3. November verweisen jedoch darauf, daß in den modernen „Schauprozessen“ der Sexualität nicht die Funktion zukommt, einen Repräsentanten als „Fremdkörper“ vorzuführen, sondern ihn zum „Eigenkörper“ der Gemeinschaft zu erklären. Zweifellos wurden auch bei den Hearings des amerikanischen Präsidenten Phantasien von Vernehmungsbeamten ausagiert. Nur: Wer waren die Vernehmungsbeamten? Auf den ersten Blick würde man sagen: Sonderermittler Kenneth Starr und die konservativen Kräfte, für die er tätig wurde. Folglich müßten es puritanische Phantasien gewesen sein, die „ausagiert“ wurden. Bei genauerem Blick ist jedoch zu erkennen, daß diese konservativen Kräfte ihrerseits das Produkt einer treibenden Kraft sind, die ihnen, wenn nicht die Amtsenthebung Clintons selbst, so zumindest diese Form von politischer Auseinandersetzung nahegelegt hat.

Die Öffentlichkeit selbst scheint die Rolle des Vernehmungsbeamten eingenommen zu haben. Allerdings ist sie kein handelndes Subjekt. Sie ist ein Konstrukt – oder, wenn man will, ein Gemeinschaftskörper, der durch die mediale Vernetzung überhaupt erst entsteht. Diese Öffentlichkeit äußerte sich zwar einerseits ablehnend über die voyeuristische Ausbreitung der Details aus dem Sexleben des Präsidenten, andererseits erwartete sie aber mit Spannung jede neue Veröffentlichung.

Standen im Mittelpunkt des Kodex traditioneller Gesellschaften die Gesetze, die das Geschlechtsleben der Individuen regeln, so ist nun das Interesse am Geschlechtsleben in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Organisation gerückt. Anders formuliert: Die Öffentlichkeit agiert ihre Phantasien am Körper des Königs aus, und das Ausagieren dieser Phantasien wird zum konstitutiven Faktor der Gemeinschaftsbildung.

Bei diesem Vorgang tritt der private Körper des Königs an die Stelle, an der sich vorher der öffentliche befand. Das hat zur Folge, daß, wenn der König, Repräsentant des Gemeinschaftskörpers, ißt, trinkt, spricht oder seinen Sexualbedürfnissen nachgeht, er dieses immer im Namen des Volkes und für das Volk tut.

Solche Phänomene sind schon aus dem Starkult bekannt. Popmusiker werden nicht als Schöpfer, sondern als Geschöpf der Rezipienten verstanden. Sie agieren das aus, was der Gemeinschaftskörper der Fans ihnen an Sexualphantasien oder Phantasien von Genderzugehörigkeit anbietet, und setzen diese um. Ähnlich verhält es sich mit dem des Präsidenten, der mit dem Amt auch die Verpflichtung eingegangen zu sein scheint, die Phantasien der Öffentlichkeit auszuagieren.

Und das ist das eigentlich Neue an dieser Affäre. Zu den Vorläufern gehört aber auch die Erbschaft von 1968. Insofern ist es nicht erstaunlich, daß das Phänomen ausgerechnet mit Bill Clinton erstmals so deutlich greifbar geworden ist. Nicht nur repräsentiert er in den Augen vieler die Tradition von '68, darüber hinaus hat ihn auch sein Ruf, ein Frauenheld zu sein, für diese Rolle geradezu prädestiniert.

Für die Frauenbewegung ist eine paradoxe Situation entstanden. Einerseits dienen die Errungenschaften der Frauenbewegung politischen Zielen, die nichts mit der Frauenbewegung zu tun haben oder sogar gegen sie gerichtet sind. Andererseits ist die Frauenbewegung aber auch unfreiwillig zum Medium einer Entwicklung geworden, bei der sich öffentlicher und privater Raum gegenseitig durchdringen.

Die Kräfte, die diese Entwicklung vorantreiben, stehen rechts oder links, und sie machen kaum mehr einen Unterschied zwischen sexueller Normierung und sexueller Freizügigkeit. Diese Entwicklung war nur möglich, weil die sexuelle Regellosigkeit zur Norm geworden ist. Indem sie zur Norm wurde, eröffnete sie auch die Möglichkeiten, das politische und soziale Verhalten zu sexualisieren.

Wilhelm Reichs Traum von der Politisierung durch Sexualisierung – seine Schriften waren '68 nicht zufällig wichtig –, hat sich auf seltsame Weise umgekehrt. Glaubte Reich, daß eine „befreite Sexualität“ revolutionäre Kräfte freisetzen werde, so stellen wir heute fest, daß die sexuelle Revolution zur Sexualisierung sozialer und politischer Konflikte beigetragen hat. In dieser Funktion kann sie sogar zum Instrument konservativer Strömungen werden, denen die Wünsche und Auswirkungen von 1968 ein rotes Tuch sind.

Christina von Braun, 54, ist Professorin für Kulturwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität. Ihr Text ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den sie unter dem Titel „Was ist die Halbwertzeit von Tomaten?“ kürzlich am Feministischen Institut der Heinrich-Böll- Stiftung gehalten hat.