Kleine Schritte für das Gute

Der Spruch der Londoner Lordrichter im Fall des chilenischen Militärdiktators Augusto Pinochet hat das Fenster zu einer weiten Perspektive menschenrechtsorientierter Politik aufgestoßen. Jetzt gilt es, die Schwächen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom Dezember 1948, die dem Kalten Krieg entsprangen, zu beheben. Ein Plädoyer gegen die Verzagtheit und die Haltung des „Alles oder nichts“  ■ Von Christian Semler

In diesem Augenblick“, so der Dichter Canalis, „bricht dem für China nützlichsten Mandarin das Auge, und das Reich wird in Trauer versetzt. Macht Ihnen das viel Kummer? Die Engländer töten in Indien Tausende von Menschen, die genau so viel wert sind wie wir; es wird dort in dieser Minute, die ich mit Ihnen spreche, die entzückendste Frau verbrannt; aber haben Sie zum Frühstück eine Tasse Kaffee weniger getrunken?“

Diese sanften Zynismen entstammen dem Roman „Modeste Mignon“, 1863 von Honoré de Balzac verfaßt. Sie dienen dem italienischen Historiker Carlo Ginzburg als Anschauungsmaterial, um zu zeigen, wie mit der Entfernung unser Mitgefühl angesichts der Unmenschlichkeit schrumpft. Aber wie würde die Gesprächspartnerin des Dichters auf Provokationen dieser Art heute reagieren? Sie hätte bereits die Nachrichten über die jüngste Verhaftung von Mitgliedern der illegalen Demokratischen Partei Chinas gehört; hätte das neueste Dossier über den Kampf gegen die Gechlechtsverstümmelung an Frauen in Afrika gelesen; im TV verfolgt, wie auf den Straßen Jakartas rebellierende Studenten verprügelt werden.

Sie würde einen Schluck des zu fairem Preis erworbenen Nicaraguakaffees nehmen und dem modernen Canalis antworten: „Teurer Freund, mein Problem besteht nicht in der Abnutzung von Mitleid und Empörung angesichts weit entlegener Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Auffassung, jeder solle seinen Nächsten lieben wie sich selbst, halte ich für ebenso kurzsichtig wie spießbürgerlich. Außerdem: Wer liebt sich schon selber? Besteht der Skandal unserer Zeit nicht darin, daß wir so umfassend unterrichtet sind, aber unsere Regierungen und wir selbst so wenig tun können, um den Schlächtern in den Arm zu fallen? Oder sie wenigstens später zu richten, als Abschreckung künftiger Massenmörder?“

Und dann nähme das Gespräch die voraussehbare Wende und käme auf die fünf Herren im Londoner House of Lords, die dem früheren chilenischen Militärdiktator Augusto Pinochet soeben die diplomatische Immunität abgesprochen und den Weg frei gemacht haben für dessen Auslieferung nach Spanien.

Wird die Historie genug Ironie aufbringen? Wird sie den Tag, an dem Pinochets Anwälte ihre letzte Chance wahren und vor den Schranken des High Court gegen die tatsächliche Auslieferung ihres Klienten plädieren, zusammenfallen lassen mit dem 50. Geburtstag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem 10. Dezember 1948? Kürzlich hatte Mary Robinson, oberste UNO-Hüterin der Menschenrechte, noch melancholisch erklärt, daß es an diesem Tag nichts zu feiern geben werde. Das könnte sich ändern.

Die Entscheidung der Lordrichter hat Epoche gemacht, selbst wenn sich der britische Innenminister doch noch entschließen sollte, aus „humanitären“ Gründen Pinochet wegen seines Alters oder angegriffener Gesundheit von der Auslieferung zu verschonen. Denn die Mehrheitsentscheidung statuiert im Kern, daß die Immunitätsbestimmungen für Diplomaten, die das Wiener Abkommen 1961 festlegte, nicht anwendbar sind, wenn der Beschuldigte Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt hat.

Ausdrücklich bezieht sich die Majorität der Lordrichter auf die Nürnberger Prozesse und spricht ihnen völkerrechtliche Gültigkeit zu. Pinochnet habe nicht in Ausübung seiner Amtspflichten gehandelt. Er selbst habe Entführungen, Folter und Exekutionen angeordnet – Straftaten, die den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllten. Die erzwungene Amnestie in Chile sei international nicht rechtsverbindlich.

Einer der beiden Minderheitsvertreter gab bei seinem Votum zu bedenken, beim Gremium der Lordrichter handele es sich schließlich nicht um einen Weltgerichtshof für Strafsachen. Ungewollt hat er damit den Blick freigegeben für die politischen Folgen, die aus der Entscheidung erwachsen können. Pinochet wird an eine nationale Gerichtsbarkeit, die spanische, ausgeliefert, weil der im Juli dieses Jahres in Rom beschlossene Internationale Strafgerichtshof noch nicht errichtet ist.

Wie viele andere Juristen setzte die französische Rechtslehrerin Mireille Delmas-Marty in Le Monde den Londoner Entscheid in Perspektive: „Man kann hoffen, daß in diesem neuen Klima der Druck der öffentlichen Meinung eine genügend große Anzahl von Regierungen veranlassen wird, die Konvention von Rom zu ratifizieren.“

Gewiß ist das Statut dieses zukünftigen Gerichtshofs mit Mängeln behaftet, es trägt die Narben erbitterter Konflikte, die sich die Verfechter der Weltgerichtsbarkeit, darunter viele Nichtregierungsorganisationen, mit den Verteidigern des nationalstaatlichen Monopols in Strafsachen lieferten. Das Statut sieht ein aufschiebendes Veto des UN-Sicherheitsrats gegen die Einleitung von Verfahren vor, der Kreis der verfolgbaren Delikte ist begrenzt.

Vor allem aber wurde die Initiative abgeschmettert, Täter in absentia, in Abwesenheit, anzuklagen und zu verurteilen, wodurch fast gesetzmäßig „die Großen laufen gelassen werden“. Gerade eine Anklage gegen Pinochet, den ehemaligen Staatschef, wäre geeignet, ein wenn nicht juristisches so doch politisch-psychologisches Präjudiz zu liefern, ein Versprechen, abgegeben gegenüber vergangenen wie gegenwärtigen Opfern der Diktatoren.

Die Londoner Entscheidung des November, wie vorher der Beschluß von Rom, sind Bestandteile einer großen Reparaturmaßnahme. Damals, 1948, als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beschlossen wurde, war der Hauptstreitpunkt, was eigentlich unter „Rechten“ zu verstehen sei.

Der Begriff selbst ist erst jüngsten Datums, geprägt von Eleonor Roosevelt, Ehefrau des verewigten US-Präsidenten F.D. Roosevelt und gleichzeitig Schrecken aller Chauvis: Sie wollte zeigen, daß nicht nur Männer Träger von Menschenrechten sein können (bislang galt: „the rights of men“), vor allem aber, daß die mörderische Praxis der Nazis die Frage aufzwang, ob es nicht jenseits des positiven Rechts „Rechte“ geben müsse. „Rechte“, die den Gewaltunterworfenen nicht in ihrer Eigenschaft als Bürger eines Staates, sondern eben als „Menschen“ zustünden.

Damit ging ein Jahrhundert des Rechtspositivismus zu Ende, das Rechte dieser Art als Hirngespinste abgetan hatte, als „Unsinn auf Stelzen“, so der britische Philosoph (und Demokrat) Jeremy Bentham, der sich in der Verachtung der „Menschenrechte“ mit Konservativen einig war.

Aber gab es solche Rechte denn wirklich? Zu Zeiten der Aufklärung und der großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts waren die Konstrukteure der Menschenrechtserklärungen der Meinung gewesen, die Menschenrechte seien self-evident. Sie ergäben sich aus der in der Menschennatur angelegten Vernunft. Es gelte nur, dieser Natur zum Durchbruch zu verhelfen – und zwar im Rahmen der von den Bürgern rechtsstaatlich organisierten Nationalstaaten. Zu diesen naturrechtlichen Konstruktionen führte kein Weg zurück.

Jetzt stand nicht mehr das Selbst- und Weltbild der triumphierenden Vernunft im Mittelpunkt, sondern die Bedürftigkeit und Verletzlichkeit des Individuums. Seinen elementaren Bedürnissen, so dem Recht auf Leben, körperlicher Unversehrtheit und Bewegungsfreiheit, sollte zum Durchbruch verholfen werden. Was aber ist ein Recht wert, wenn es nicht einklagbar ist?

Hier schieden sich seit 1948 die realsozialistischen von den liberalen Geistern. Denn die UdSSR war nur bereit, der Erklärung den Status eines „gemeinsamen Ideals“ zu geben, eine Formulierung, die sich in der Präambel der Gemeinsamen Erklärung wiederfindet. Für die Sowjets war der Gedanke, daß Rechte auch gegenüber dem eigenen Staat durchsetzbar sein müßten, ein Greuel.

Der sowjetische Delegierte betonte damals: „In einer Gesellschaft, in der es keine antagonistischen Klassen mehr gibt, kann es keinen Widerspruch zwischen dem Individuum und der Regierung geben. Denn die Regierung ist in der Tat das kollektive Individuum.“ Tatsächlich konnten weder 1948 noch in der gesamten Zeit des Kalten Krieges die Menschenrechte als international einklagbar durchgesetzt werden. Erst jetzt hat sich wieder ein Window of Opportunity geöffnet.

Indem die Erklärung der Menschenrechte, den sowjetischen Forderungen folgend, eine große Zahl sozialer Grundrechte, zum Teil in sehr detaillierter Form, aufnahm, verstärkte sie deren Charakter als bloß programmatisches Grundsatzdokument. Die sozialen Grundrechte hatten eine andere Struktur. Sie verwiesen und verweisen auf gesellschaftliche Gruppenrechte, auf Berechtigungen innerhalb des Wohlfahrtsstaates, der den damaligen Politikern als erstrebte Norm vor Augen stand. Ihnen fehlte die Universalität, wie sie sich aus dem Recht auf Leben, das heißt aber auch auf Überleben, ergeben hätte. Gerade seine Vollständigkeit machte den Katalog unverbindlich, nicht praktisch brauchbar – was den Interessen nicht nur der Realsozialisten entsprach.

Als schärfste, als unerbittlichste Kritikerin des Revivals der Menschenrechte erwies sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Philosophin Hannah Arendt. Angesichts des Sterbens der staatenlos Gewordenen, der Flüchtlinge, schrieb sie rückschauend in ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“: „Das bloße Wort Menschenrechte wurde überall und für jedermann, in totalitären und demokratischen Ländern, für Opfer, Verfolgte und Betrachter gleichermaßen, zum Inbegriff eines heuchlerischen oder schwachsinnigen Idealismus.“

Für Arendt unterschieden sich die „sentimental humanen Sprüche“ wohlmeinender Verteidiger der Menschenrechte nur gering von dem, was „in den Broschüren der Tierschutzvereine“ dargeboten wurde. Für sie stand fest: „Absolute Rechtlosigkeit hat sich in unserer Zeit als die Strafe erwiesen, die auf absolute Unschuld steht.“

Zerschellt der vorsichtige Optimismus, der nach dem Beschluß von Rom und dem Entscheid der Londoner Lordrichter waltet, nicht an dieser wütenden, verzweifelten Attacke? Erweist sich ein weiteres und bestürzendes Mal die Aktualität von Hannah Arendts Zeitdiagnose? Für eine solche Sicht der Dinge lassen sich gewichtige Indizien aufführen. Hat sich nicht in den vergangenen Jahren der Zielpunkt menschenrechtswidriger Repression verlagert? Auf „dem amerikanischen Kontinent von der politischen Opposition zu den Straßenkindern und Slumbewohnern, in Europa von den Dissidenten zu den Flüchtlingen“, wie Pierre Sané auf der deutschen Jahresversammlung von amnesty international 1995 sagte?

Wie und vor wem sollen diese Menschen wirksam ihre Stimme erheben, wenn nicht ein Kamerateam von CNN vorbeischaut? Leiden die Interventionen der UNO nicht hoffnungslos am Gebrechen der Selektivität, wie die vielfach fruchtlosen Versuche beweisen, die Menschenrechtslage in der Volksrepublik China bei der UNO-Menschenrechtskommission zu thematisieren? Übernimmt sich die Weltorganisation nicht hoffnungslos, wenn sie aus humanen Motiven angesichts zerfallender Staaten de facto und auf unbegrenzte Zeit als Quasistaat auftritt?

Schließlich: Besteht nicht ein unaufhebbarer Zielkonflikt zwischen einer internationalen Menschenrechtspolitik und dem ebenso legitimen Wunsch, die Zahl der Nuklearmächte zu begrenzen oder den Hungernden – und sei es mit Hilfe der örtlichen tyrannischen Machthaber – das schiere Überleben zu sichern?

All diese Einwände sind berechtigt, vermögen aber nicht daran zu rütteln, daß schrittweise, gleichsam osmotisch, Menschenrechtsbelange durchsickern. In den Organisationen der UNO, die sich bislang taub stellten, wie beispielsweise der Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR. Oder bei den Versuchen, die UNO-Exekutive auch hinsichtlich der Menschenrechte mit mehr Befugnissen auszustatten. Bei der Menschenrechtskommission, die mit ihren Missionen vor Ort einen doch weithin sichtbaren Pranger errichtet hat. Und schließlich mit dem Projekt des Internationalen Strafgerichtshofs.

Am wichtigsten aber ist ein Wechsel der internationalen öffentlichen Meinung. Erst dieser würde eine globale Menschenrechtspolitik stützen, die sich nicht versteckt, die aber schrittweise vorangeht, hin zu dem weit entfernten, aber nicht unerreichbaren Ziel: dem internationalen Menschenrechtsregime. Schwachsinniger Idealismus, letzter Hoffnungsanker der frustrierten Linken? Das glaube ich nicht.

Christian Semler, 59, Historiker und Jurist, arbeitet seit 1989 als Redakteur für die taz. Er lebt in Berlin