Gesucht: Nichtgeorgierinnen

Leben in der Bundesliga (XVIII): Die Schachspielerinnen des SSV Rotation aus dem Osten Berlins sind eine echte Gemeinschaft und bleiben sich trotz schwieriger Umstände treu  ■ Von Mathias Stuhr

Die Spielautomaten blinken und piepen, rechts ein rustikaler Tresen, die Welt scheint in Ordnung. Wir befinden uns in „Sonnes Bierbar“ – der Wirt heißt wirklich Sonnenschein –, Vereinssitz, Turnierort und soziales Zentrum des größten Berliner Schachvereins, dem SSV Rotation. Dieser wurde im November 1951 in Ost-Berlin gegründet, im Schachsport ein Name mit Klang. Seine Jugendarbeit, es gibt vier Nachwuchsmannschaften, ist über die Grenzen Berlins hinaus bekannt.

Die Schachabteilung des Vereins umfaßt 99 Spieler, davon 86 Jungen und Männer. 13 Mädchen und Frauen bilden das Team der 1. Damenbundesliga, die erste Männermannschaft spielt „nur“ in der Oberliga. Der Club ist stolz auf seine Frauenriege, die der Vereinsvorsitzende Walter Tölg schmunzelnd als „Muttimannschaft“ bezeichnet. Das soll nicht deren Leistung schmälern, sondern umschreibt etwas verniedlichend die Doppel- bis Dreifachbelastung als Berufstätige, Mütter und Spitzenspielerinnen.

Für die Spielerinnen gäbe es plausible Gründe, der Vorwendezeit hinterherzutrauern, auch wenn sie dies nicht tun. Vor 1990 gab es berufliche Freistellungen für den Sport, die Kinder waren versorgt, und finanziell lief es für den gesamten Verein durch die Zuwendungen des Berliner Verlages, daher der Name Rotation, auch erheblich besser. „Zu DDR- Zeiten wurde der Sport, auch der Frauensport, einfach besser unterstützt“, bestätigt Brigitte Burchardt, ehemalige ostdeutsche Schachmeisterin, die vom ADW Berlin zu Rotation wechselte und in den fünf neuen Ländern noch heute eine Schachlegende ist. Sylvia Wolf, Stammspielerin von Rotation, erkennt gar einen gesamtgesellschaftlichen Trend: „Es geht wieder zurück an den Herd.“

Keiner Spielerin kann etwas gezahlt werden, im Gegenteil: Die Auswärtsspiele, ins Ruhrgebiet beispielsweise oder sogar nach Karlsruhe, müssen selbst finanziert werden, dem Verein fehlt weiter ein Sponsor. So wird aus der Not eine Tugend gemacht und nicht die fehlende Verpflichtung deutscher oder ausländischer Spitzenspielerinnen beklagt, sondern die besondere lokale Verankerung als echter Berliner Verein gepflegt. Im Hinterzimmer von Sonnes Bierbar sind die Bretter aufgebaut, die Schachuhren, Marke Ruhla natürlich, ticken, und bei Trainingsbeginn der Frauen möchte eine Handvoll kleiner Jungs den sehr einfach gehaltenen Raum einfach nicht verlassen, sondern lieber selber weiterspielen.

Es ist als besonderer sportlicher Erfolg zu werten, daß ohne nur für die Wettkämpfe „eingeflogene“, meist ausländische Spielerinnen nach vier Spieltagen immerhin der siebte Platz in der zwölf Teams umfassenden ersten Liga belegt wird, nur einen Punkt hinter dem Tabellendritten. Das Thema der ausländischen und deutschen Gastspielerinnen wird hier sehr kritisch gesehen. „Das soll aber bloß nicht nationalistisch ausgelegt werden“, betont eine Spielerin. Durch die kurzfristige Verpflichtung von Legionärinnen, besonders am Saisonende, werde die Meisterschaft oft verzerrt. Beispielsweise spielen beim Titelverteidiger, der Elberfelder SG 1851 aus Wuppertal, drei sehr starke Großmeisterinnen (WGM) aus den Niederlanden, der Schweiz und Bulgarien an den ersten Brettern, beim SK Holsterhausen aus Essen sind gar die ersten vier Plätze an ausländische Spitzenspielerinnen vergeben. Die Bundesliga ist die einzige Eliteliga für Frauen weltweit, auch wenn den allerbesten Spielerinnen in einer Saison weit weniger gezahlt wird als einem durchschnittlichen Fußballprofi pro Woche.

Von dem Dutzend Mannschaften der Schach-Bundesliga kommen nicht zufällig sechs aus dem Osten Deutschlands, überdurchschnittlich viele, gerade verglichen mit den drei Ostmannschaften in der Männerbundesliga. Der DDR- Schachverband war seinem westdeutschen Pendant leistungsmäßig nicht unterlegen, bei den Frauen sogar weit überlegen. Die Wiedervereinigung veränderte auch hier fast alles. 1990 wurde die eingleisige Damenbundesliga gegründet, bei der der westdeutsche Turniermodus der Herren auf die bestehende DDR-Frauen-Oberliga übertragen wurde. In Westdeutschland gab es ähnliches nicht. Nachdem der SSV Rotation 1990 die letzte DDR-Meisterschaft gewonnen hatte, wurde er in der ersten gesamtdeutschen Saison Zweiter.

Nur 5.440 organisierte Schachspielerinnen stehen in Deutschland über 90.000 Schachmännern gegenüber, die sich oft für Kasparow halten, aber nur spielen, wie Eddie Edwards skifliegt. Die meisten Schachvereine haben gar keine weiblichen Mitglieder, bei vielen spielen nur Einzelkämpferinnen. Ein Großteil der Männer hält Frauen auch weiterhin für schlechtere Spielerinnen, da können noch so viele Großmeisterinnen oder Internationale Meisterinnen die Partien gewinnen. Dabei ermöglicht gerade beim Schach die besondere universelle Meßbarkeit der Spielstärken (ELO, DWZ) spekulationsfreie Vergleiche. Vielen Männern bereitet eine Niederlage gegen eine Frau aber immer noch Höllenqualen, schlimmer als Führerscheinentzug oder Kneipenverbot. Bei den Hobby- und Freizeitgruppen spielen nicht selten sogar mehr Mädchen als Jungs, im Teenageralter ebbt die Begeisterung, der Spaß am Spiel, dann aber erheblich ab. Die Bereitschaft erwachsener Frauen, die Hahnenwettkämpfe verbissener Schachmänner zu akzeptieren, fällt um so schwerer, je mehr private und berufliche Belastungen bestehen.

In der ehemaligen Sowjetrepublik Georgien wird die Tradition gepflegt, jeder Ehefrau ein Schachspiel mit in die Ehe zu geben. Dies führte im schachbegeisterten Georgien zur Heranbildung zahlreicher Weltklassespielerinnen wie etwa Nana Ioseliani, Topspielerin des Tabellenzweiten USV Halle, der an diesem Wochenende die 5. und 6. Bundesligarunde mit Beteiligung vom SSV Rotation ausrichtet. Obwohl die Idee der intellektfördernden Mitgift auch für Männer nachahmenswert erscheint, ist wohl kaum von den Schach-Herren zu erwarten, weibliche Vereinsmitglieder und Töchter ebenso zu fördern, wie sie es mit Jungen jahrzehntelang taten. Also, Nichtgeorgierinnen dieser Erde, erobert die Bretter!