Endlich ein Loch im Schuldturm

■ Am 1. Januar tritt die neue Insolvenzordnung in Kraft - ein Befreiungsschlag für überschuldete Verbraucher. Erstmals kann die darin vorgesehene Restschuldbefreiung privaten Schuldnern helfen, wirtschaftlich

Über zwei Millionen Haushalte sind nach Expertenschätzungen in Deutschland überschuldet. Sie können ihre Kreditraten nicht mehr aufbringen, geraten mit Mietzahlungen in Rückstand, dann in Panik, wenn die Waschmaschine kaputt geht – und haben es längst aufgegeben, die „blauen Briefe“ zu öffnen. Mahn- und Kündigungsschreiben von Geldinstituten, Vollstreckungsbescheide, Forderungen von Inkassobüros, Versandhäusern, Anwälten, Ärzten und vom Finanzamt füllen Schuhkartons. Die Gründe sind bekannt: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Trennung vom Partner, Bürgschaften und gescheiterte Existenzgründungen sind die Auslöser für die Überschuldung.

Bislang konnten Gläubiger aufgrund erwirkter Titel (Vollstreckungsbescheid oder Urteil) dreißig Jahre lang vollstrecken. Die Folge: ein Leben an der Pfändungsgrenze oder im finanziellen Untergrund. Bekannte anpumpen, Arbeitgeber wechseln und „Geheimhalten“, häufig umziehen, von der Hand in den Mund leben – kurz: der moderne Schuldturm.

Wer Restschuldbefreiung erlangen will, muß ein kompliziertes dreistufiges Verfahren durchlaufen. Am Anfang steht der Gang zu einer Schuldnerberatung, eine nach den Worten des Gesetzes „geeignete Stelle“, die versucht, für den Schuldner einen außergerichtlichen Regulierungsplan mit allen Gläubigern zu vereinbaren.

Beispiel: Ein Alleinstehender hat 70.000 Mark Schulden und ein Einkommen von 1.800 Mark. Nach bisherigem Recht könnte etwa 400 Mark monatlich gepfändet werden. Doch allein die Zinsen sind höher. Es wird nicht getilgt, sondern die Schulden steigen sogar Monat für Monat um mindestens 60 Mark.

Nach neuem Recht könnte der Plan so aussehen: Der Schuldner zahlt 84 Monate 400 Mark, das sind 33.600 Mark. Dann werden ihm die Restschulden von 36.400 Mark erlassen. Fast immer müssen die Gläubiger auf einen großen Teil ihrer Forderung verzichten, oft gibt es auch gar nichts anzubieten, weil kein Einkommen oder Vermögen vorhanden ist. Stimmen alle Gläubiger dem Plan zu, kann die Schuldentilgung wie vereinbart stattfinden. Stimmt ein Gläubiger nicht zu und scheitert der Plan, muß binnen sechs Monaten das Insolvenzverfahren beim Amtsgericht beantragt werden. Bedingung: Der Schuldner kann das Verfahren bezahlen – rund 3.000 Mark. In dieser zweiten Phase muß der Schuldner einen Schuldenbereinigungsplan beim Gericht einreichen. Grundlage hierfür ist regelmäßig der zuvor gescheiterte Schuldenregulierungsplan – nunmehr allerdings unterfüttert durch die Autorität des Gerichts. Stimmen mehr als die Hälfte der Gläubiger, die zusätzlich mehr als die Hälfte der Schuldsumme auf sich vereinen, dem Plan zu, kann das Gericht stellvertretend für die Verweigerer den Plan absegnen. Dann kann die Schuldentilgung wie vorgesehen stattfinden.

Scheitert auch dieser Plan, beginnt das eigentliche Insolvenzverfahren. Ein vom Gericht bestellter Treuhänder zieht vom Arbeitgeber des Schuldners das pfändbare Einkommen ein und verteilt es sieben Jahre lang (Altfälle: fünf Jahre) an die Gläubiger. Während dieser dritten, der Treuhandphase, sind dem Schuldner hohe Pflichten aufgebürdet. Er muß sich zum Beispiel um „zumutbare“ Arbeit bemühen und annehmen, Wohnortwechsel anzeigen, Auskünfte über Erwerbstätigkeit erteilen und Vermögensveränderungen anzeigen. Von einer Erbschaft zum Beispiel muß er die Hälfte abgeben. Kommt er den Pflichten nicht nach, kann ein Gläubiger beantragen, daß die Restschuldbefreiung versagt wird. Ist das nicht der Fall, erteilt das Gericht Restschuldbefreiung. Die restlichen Schulden werden gestrichen, egal, wie hoch die dann noch sind.

Im langwierigen Gesetzgebungsverfahren gab es von Verbraucherseite vor allem Kritik an der überlangen Treuhandphase. Bedenkt man, daß Schuldner meist schon eine jahrelange Verschuldenszeit hinter sich haben, rechnet man die siebenjährige Treuhandphase und die Vorbereitungszeit hinzu, so dürfte die durchschnittliche Armutszeit eher bei zwölf als bei sieben Jahren liegen. Eine Heidenangst schien der Gesetzgeber davor zu haben, daß das Gesetz von leichtfertigen Schuldnern mißbraucht würde. Diese Befürchtungen mündeten in Anforderungen an das Verhalten der Schuldner, die an Bewährungsauflagen für Straffällige erinnern. Umstritten sind auch die Regelungen zu den sogenannten „Abtretungsgläubigern“. Die sollen nämlich das gesamte pfändbare Einkommen in den ersten drei Jahren erhalten, erst ab dem vierten Jahr kommen auch die anderen Gläubiger zum Zuge. Fast immer sind es Geldinstitute, in deren Kreditverträgen sich Abtretungserklärungen finden. Da die älteste Abtretung an erster Stelle steht, sind Banken und Sparkassen regelmäßig gegenüber anderen Gläubigern, beispielsweise den Unterhaltsgläubigern – oft Frauen und Kinder – privilegiert. Schließlich ist auch zu befürchten, daß unter dem Druck der großen Fallzahlen rechtliche Überprüfungen der Forderungen unterbleiben werden. Rechts- und Schuldnerberater wissen, daß zahlreiche Forderungen insbesondere von einigen Geldinstituten und Inkassobüros ganz oder teilweise unberechtigt sind – zum Beispiel wegen unzulässiger Entgelte, vorausgegangener kostentreibender Umschuldungen, zu hoher Verzugszinsen oder wegen rechtswidriger Bürgschaften. Aus Sicht des Schuldner mag das egal sein, die eher „redlichen“ Gläubiger (Handwerker, Ärzte, Anwälte, Finanzamt, Sozialversicherungsträger) haben dann aber oft das Nachsehen.

Offen ist bislang, ob die Schuldner, die die Verfahrenskosten nicht aufbringen können, „durchfallen“, oder ob es für die ganz Armen Prozeßkostenhilfe gibt. Unklar ist auch, ob die Gläubiger „mitspielen“ werden. Schuldnerberatungsstellen hoffen auf rationelles Denken der Gläubiger und auf hohe Bereitschaft zur Zustimmung zu außergerichtlichen Schuldenregulierungsplänen. Denn in der Regel wird im gerichtlichen Insolvenzverfahren kein Pfennig mehr zu verteilen sein; allenfalls die Rachsucht der Gläubiger mag befriedigt werden, wenn der Schuldner die Treuhandphase mit hohen Verpflichtungen durchlaufen muß. Zur Zeit sieht es so aus, daß Banken und Inkasso-Institute den Regulierungsplänen nur zustimmen, wenn mindestens zwanzig Prozent ihrer Forderungen bezahlt werden, ansonsten wird der Plan abgelehnt.

Erste praktische Erfahrungen mit dem neuen Gesetz gibt es seit Juli 1998, dem frühestmöglichen Beginn der vorgerichtlichen Regulierungsphase. Bisher zeigt sich, daß die Defizite mancher Beratungsstellen (keine EDV, begrenzte juristische Qualifikation) sich auf die Qualität der außergerichtlichen Beratung auswirken. Die Schuldner und die Gerichte werden es ausbaden müssen, daß die Länder zwar notgedrungen und oft in letzter Minute die nötigen Landesausführungsgesetze zur Insolvenzordnung verabschiedet, aber die finanzielle Ausstattung der Beratungsstellen nicht an den Bedarf angepaßt haben. Schuldner müssen monatelang auf einen Beratungstermin warten, wertvolle Zeit für die Entschuldung geht verloren. Viele sind mit dem Ordnen ihrer Unterlagen und dem Aufspüren aller Gläubiger überfordert. Das Gesetz aber verlangt eine lückenlose Einbeziehung aller Gläubiger. Wer hier schlampt, riskiert die Restschuldbefreiung.

Allerdings zeigt sich schon jetzt, daß sich die Schuldner wiederum in zwei Gruppen aufteilen: Die Fitten – häufig ehemalige Gewerbetreibende –, die sich mit dem Gesetz auskennen und wahrscheinlich sehr früh davon profitieren, sowie die sozial Schwächeren, die resigniert haben und die Energie für die finanzielle Konsolidierung nicht mehr aufbringen. Jene mögen sich ermuntert fühlen! Auch mehrere hunderttausend Mark Schulden und dreißig oder mehr Gläubiger sind kein Grund mehr, den Kopf in den Sand zu stecken. Kaufen Sie einen Ordner, sortieren Sie Ihre Unterlagen und suchen Sie eine „geeignete Stelle“ auf. Denn erstmals haben hoch Verschuldete eine realistische Chance für einen wirtschaftlich Neuanfang in absehbarer Zeit. Edda Castelló

Die Autorin leitet die Abteilung Recht, Finanzen und Gesundheit der Verbraucherzentrale Hamburg, Kirchenallee 22, 20099 Hamburg, Tel.: (040) 248 32-0, Fax: -290