Kandidat Ma Ying-Jeou brüllt in Daiwanuei

■ Bei den Parlaments- und Bürgermeisterwahlen auf Taiwan steht die Beziehung zur Volksrepublik China im Mittelpunkt. Die internen Probleme der Insel werden vernachlässigt

Taipei (taz) – Ohrenbetäubender Lärm herrscht in Taipei. Knallfrösche werden abgefeuert, Lautsprecherwagen rollen plärrend durch die Straßen. Vor dem Chiang-Kai-chek-Gedenkpark in der Stadtmitte, wo Chen Shui-bian, der amtierende Bürgermeister und Spitzenkandidat der oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei (DPP), auftritt, brüllen Jugendliche zum HipHop-Beat „Sieg!“ in taiwanesischem Dialekt. Chen bricht mit Wollmütze und Jeans durch eine Pappwand, auf der in dicken Buchstaben „Korruption in der Regierungspartei“ steht. Ein Ruf der Menge dürfte sogar die Machthaber in Peking erzittern lassen, denn Chen Shui- bian gilt als Freund der Unabhängigkeit Taiwans. Gewinnt er die Wahlen vom Samstag, dann dürfte Chen im Jahre 2000 die besten Chancen als künftiger Präsident der Republik haben.

Die Taiwanesen wählen aber diesmal keinen Präsidenten, sondern nur die Hälfte des Parlamentes und Bürgermeister in großen Städten wie Taipei, Kaohsiung und Taichung neu. Die Bürgermeisterwahlen sind wichtiger, weil dort Spitzenpolitiker der regierenden Nationalisten (KMT) und der DPP gegeneinander antreten. Gestritten wird über die künftige Beziehung zur Volksrepublik und den internationalen Status von Taiwan. Im Streit sind auch Schlammschlachten über Charakterzüge der Politiker gängig.

Schlammschlachten vermeiden wollte der KMT-Kandidat und ehemalige Justizminister Ma Ying- jeou, der in Taipei gegen Chen Shui-bian antritt. Ma gilt als Saubermann in der Regierungspartei und ist im Volk beliebt als Kämpfer gegen das organisierte Verbrechen. Er hat gute Chancen, Chen aus dem Amt zu werfen, was die Wahlen erst recht angeheizt hat.

„Den Wohlstand mit dem Blut verteidigen“

Im Kopf-an-Kopf-Rennen hat sich Ma mit seinem Slogan vom „neuen Taiwanesen“ profiliert. „Das ist die Generation aufgeklärter Taiwanesen, die demokratisch wählen, in Wohlstand leben und die Insel als blühenden Wirtschaftsstandort Asiens wenn nötig mit dem eigenen Blut verteidigen“, sagt Ma. Der gebürtige Festlandchinese will wie die KMT die Beziehung mit China jedoch schrittweise verbessern.

Von dieser pragmatischen Haltung der Regierungspartei unterscheidet sich der Standpunkt der oppositionellen DPP nur in Einzelheiten. Chen Shui-bian pocht als ehemaliger Vorkämpfer für Demokratie auf den Volkswillen. Er will die Annäherung an die Volksrepublik über Referenden und nicht per Regierungsdekret bestimmt sehen. Klar zurückgewiesen hat ein Parteisprecher Mutmaßungen über Unabhängigkeitsbestrebungen der DPP: „Eine Unabhängigkeitserklärung kommt für die DPP überhaupt nicht in Frage.“ Statt dessen sollen die Taiwanesen sich mehr für die Weiterentwicklung der Insel als de facto souveräner Staat einsetzen.

Ein Zeichen des neuen Bewußtseins ist die Sprache. Der Wahlkampf wird im heimischen Dialekt und kaum in hochchinesisch geführt. Diesem Diktat mußte sich sogar Ma beugen, der ursprünglich kein Taiwanesisch sprach und nun seine Slogans vor der Menge in Daiwanuei brüllt.

Trotz der neuen Sprachregelung werden taiwanesische Themen wie Korruption, steigende Krimininalitätsrate und die Wirtschaftspolitik im Hinblick auf die Asienkrise nur am Rande berührt. „Mir wär es lieber, wenn die Politiker mehr über die Zukunft Taiwans als Wirtschaftsstandort reden würden“, beklagt sich der Manager eines High-Tech-Betriebes in der südlichen Stadt Tainan. Die Asienkrise spüren Taiwans Exporteure nämlich stärker, als von außen angenommen wird. Zwar herrscht bei einem Wirtschaftswachstum von rund 5 Prozent noch keine Krisenstimmung, aber fallende Exporte Richtung USA könnten das Land im nächsten Jahr vor eine harte Probe stellen.

Für Schlagzeilen sorgen dafür gegenseitige Anschuldigungen der Kandidaten über unsaubere Wahlkampfpraktiken. So kursiert überall der Spruch: „Gut, daß die Börse hoch steht, so hat die KMT genügend Geld zum Stimmenkauf.“ André Kunz