Der Chef sieht plötzlich „Spieler mit Herz“

■ Warum der Präsident des VfB Stuttgart das 3:1 gegen den HSV bewußt überbewertet

Stuttgart (taz) – Es war fast ein bißchen Adventsstimmung. Dünne Schneeflocken rieselten vom Himmel, das Tagwerk war erfolgreich abgeschlossen, überall lachende Gesichter, eigentlich fehlten nur Glühwein und Lebkuchen. Die Fußballer des VfB Stuttgart waren nach dem 3:1 gegen den Hamburger SV aber auch so zufrieden und versammelten sich zur teaminternen Gratulationscour am Spielfeldrand. Erst klatschten sie sich ab, dann bildeten sie einen Kreis und hüpften ein wenig. Es war eine Demonstration für die knapp 30.000 Zuschauer im Daimler-Stadion: Da, schaut her, die Mannschaft steht zusammen in dieser schweren Zeit. Danach ging es geschlossen in die Kurve der besonders innigen Anhänger, um mit gemeinsamem Arme-in-die-Luft- Werfen neue, bessere Tage am Wasen zu begrüßen, und irgendwie schien es so, als drückte das Transparent einer kleinen Fan- Gruppe die allgemeine Erleichterung aus. „Endlich sind wir dich los“, stand da auf ein weißes Laken gepinselt, gemeint als letzter, böser Schmähruf gegen den am Freitag zurückgetretenen Trainer Winfried Schäfer.

Selbst Klubpräsident Gerhard Mayer-Vorfelder bemühte sich, einen Eindruck rasch gewonnener Zuversicht zu verströmen. „Keine Blicke mehr in die Vergangenheit“, hatte er schon tags zuvor gefordert, also befand sich Mayer- Vorfelder logischerweise in der neuen Zeitrechnung ab Samstag, 5. Dezember 98. Doch, hier und jetzt und heute habe die Mannschaft Moral bewiesen, selbst einen Rückstand weggesteckt, sie habe gekämpft und gefightet und, das ganze andersrum, gefightet und gekämpft. Und dann kam die finale und ganz wichtige Erkenntnis: „Heute standen elf Mann auf dem Platz, die ein Herz haben.“ Ein Herz für den VfB, meinte Mayer- Vorfelder natürlich.

Oberflächlich betrachtet könnte man nun sagen, im Fußball sei es wie im Leben: Wer nichts hat, für den ist wenig eben schon viel. Doch ganz so ist es nicht, denn ein Mayer-Vorfelder redet vielleicht an einem Trollinger-Stammtisch mal locker vom Hocker daher. Wenn er sich aber im Presseraum zeigt, steckt hinter seinen Worten stets eine Absicht. Diesmal war es gewiß die, mit einem überzogenen Loblied ablenken zu wollen von der unrühmlichen Rolle, die einige der Fußballmillionäre von MVs Gnaden in dem Theater um den Trainer gespielt hatten.

Ein starker VfB? Tatsache war, daß es der Hamburger SV in der ersten Halbzeit versäumte, die deutlich sichtbare Verunsicherung der Stuttgarter auszunutzen. Die HSVer kickten so pomadig daher, wie ihr Trainer Frank Pagelsdorf hinterher erklärte, es habe „leider nicht geklappt“. Den zittrigen Schwaben genügten zehn Minuten, um aus einem 0:1 (Hollerbach/41.) ein 3:1 zu machen, danach begnügte sich der VfB damit, das Ergebnis zu halten, und wurde dabei vom HSV auch gar nicht richtig gestört.

Der Stuttgarter Interimstrainer Wolfgang Rolff hatte genauer zugeschaut als sein Präsident und „Ballverluste, Hinterherlaufen, Verunsicherung“ gesehen. Nur über den Kampf sei man für kurze Zeit ins Spiel gekommen. Es war die klare Analyse eines Mannes, der wirklich völlig frei von der Leber weg agieren kann, denn Rolff ist nur der Coach auf Abruf. Einzig der Zeitpunkt ist offen, wann das sein wird, denn noch ist der neue Cheftrainer des VfB Stuttgart nicht in Sicht. Die restlichen Spiele 1998, nächsten Samstag in Bremen und den Freitag darauf in Dortmund, wird der VfB Stuttgart mit Wolfgang Rolff auf der Bank absolvieren. Und da wird sich dann schon zeigen, ob es wirklich etwas auf sich hat mit der Erleichterung und dem vermeintlichen Aufwind nach Schäfer. Ralf Mittmann

Hamburger SV: Butt – Hoogma – Panadic, Hertzsch – Kirjakow (54. Dembinski), Groth, Gravesen, Jepsen (54. Ernst), Hollerbach – Yeboah, Dahlin

Zuschauer: 35.000; Tore: 0:1 Hollerbach (37.), 1:1 Akpoborie (43.), 2:1 Akpoborie (46.), 3:1 Akpoborie (51.)

VfB Stuttgart: Wohlfahrt – Berthold, Verlaat, Keller – Thiam, Soldo, Zeyer, Endreß (46. Poschner), Carnell – Akpoborie, Bobic (46. Ristic/78. Lisztes)