■ Nebensachen aus Moskau
: Zwischen heiß und kalt

Nikolaj Gogol hat in seinem Bestseller „Die Toten Seelen“ die beiden Hauptübel Rußlands benannt: „Die Beamten und die Straßen“. Den dritten Rang nehmen mit Sicherheit die Heizsysteme dieses Landes ein. Der beliebteste Märchenheld, „Iwan der Dumme“, lag stets auf dem Ofen herum. Offenbar war dies der einzige warme Ort in seiner Hütte. Natürlich muß es dort oben nicht nur warm gewesen sein, sondern sogar heiß.

Die russischen Bauernfamilien klammerten sich früher den ganzen Winter über an ihren riesigen Ofen. Der nahm die Hälfte jeder Hütte ein. Das Wasser wurde in seinem großen Becken warm gehalten, in einer Öffnung, die oft einem Menschen Raum bot, um sich darin zu waschen. Drei Schritte vom Ofen entfernt, wäre ihnen bei dieser Übung schon der Allerwerteste abgefroren. Aber einmal jeden Winter ließ die russische Bauernfamilie ihren Ofen ausgehen, riß Fenster und Türen auf und zog für ein paar Tage zu Verwandten. Auf diese ökologisch reine Weise wurden die Küchenschaben im Haushalt ausgerottet.

Seither gilt das Axiom, daß eine russische Wohnung entweder zu heiß ist oder zu kalt. Im europäischen Rußland und in den größten Teilen Sibiriens hält sich diese Diskrepanz im Rahmen des Erträglichen – sagen wir mal: zwischen plus fünfzehn und plus fünfunddreißig Grad. Ein Teil der russischen StadtbewohnerInnen läuft deshalb zu Hause und/ oder am Arbeitsplatz nicht in den in Westeuropa üblichen Pullovern herum, sondern in leichten Blusen oder Hemden. Die andere Hälfte trägt des Winters mehrere Lagen von Fleece- Shirts und wattierten Westen.

Auch eine überheizte Wohnung ist in diesem Lande des Winters kalt, falls die BewohnerInnen nicht im Spätherbst eine rituelle Übung vornehmen. „Haben sie schon Ihre Fenster verklebt?“ fragen sich dann Nachbarn gegenseitig. Wer nicht die messerrückenbreiten Spalten zwischen Fensterrahmen und Wand und die Ritzen innerhalb der Fensterrahmen irgendwie abdichtet, heizt einfach die Straße. Bis Mitte der 90er Jahre verklebten BürgerInnen die Ritzen mit selbstgeschnittenen Papierstreifen und Mehlkleister – so ziemlich dem einzigen Klebstoff, der in diesem Lande für Zivilpersonen im Schwange war. Beliebter als Tesa-Textilbinder – und erschwinglicher – sind heute weiße Leukoplastrollen aus russischer Produktion. Bewohner benachteiligter Etagen korrigieren ihre Situation oft mittels eines sogenannten „Reflektors“, eines elektrischen Heizofens.

Der „Reflektor“ dient heute für Bewohner der fernstlichen Städte wie Petropawlowsk- Kamtschatka und Wladiwostok oft als einzige Wärmequelle. In diese Breiten wird heute nur noch selten – und mit Unterbrechungen – Brennstoff geliefert. Im Sommer hatten die von der landesweiten ökonomischen Krise geblendeten russischen Poliiker einfach vergessen, die Heizwerke dieser Region zu versorgen. Auch das Stromnetz bricht dortzulande jetzt oft zusammen, dank des massenhaften Reflektoren-Mißbrauchs. Kranke Kinder harren in Wohnungen, in denen gerade einmal um die Null Grad herrschen, einem ungewissen Schicksal entgegen. „Ich weiß, weshalb das alles gemacht wurde“, erklärte mir eine russische Bekannte aus dem fernöstlichen Chabarowsk: „Uns, die Bevölkerung, wollen ,sie‘, die örtlichen Gouverneure, einfach ausrotten – wie Küchenschaben. Wir stören sie dabei, sich die sagenhaften Bodenschätze der Region unter den Nagel zu reißen.“ Und damit kommen wir zu einem weiteren in der russischen Gesellschaft anerkannten Axiom. Die meisten BürgerInnen Rußlands sind heute wie damals überzeugt: Was auch immer hier geschieht, geschieht mit Absicht – mit übler. Barbara Kerneck