Eine Volksdemokratie als Deckmantel

■ Gaddafi mag die Auslieferung zweier Agenten nicht selbst anordnen

Berlin (taz) – Jetzt hat das Volk das Wort. Ab morgen soll der libysche Volkskongreß über das Schicksal der beiden angeblichen Lockerbie-Attentäter beraten und anschließend noch etwa 500 Volkskomitees landesweit. Alles nur, weil Gaddafi nicht befugt sei, selbst die Entscheidung zu fällen, behauptet die staatliche Nachrichtenagentur Jana. Schließlich gehe die Macht im Staat vom Volke aus.

Alles Unsinn! – meinen Libyen- Kenner. Gaddafi, nutze die „direkte Demokratie“, um seine Alleinherrschaft zu kaschieren. Der Revolutionsführer hatte sich am 1. September 1969 als Führer eines „Bundes Freier Offiziere“ an die Staatsspitze geputscht. Vorbild war der von Ägyptens Präsident Nasser propagierte Pan-Arabismus. Doch Gaddafi entwickelte seine eigene Ideologie. 1977 proklamierte er die Sozialistische Libysche Arabische Volksdschamahirija. Der letzte Teil des Namens ist ein Kunstwort, das etwa Volksmassenrepublik bedeutet. Die ideologische Grundlage des Staats hielt Gaddafi auf 40 Seiten fest: Im 1. Teil seines grünen Buchs „Die Lösung des Problems der Demokratie: Die Volksmacht“ erläuterte er seine „dritte Universaltheorie“ – ein Schweinsgalopp irgendwo zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Seine Theorie behandelt Gaddafi flexibel. Den von Tony Blair propagierten Wandel der Arbeiterpartei zu „New Labour“ interpretierte er als Adaption seines „dritten Weges“. Äußerungen zu Schröders „neuer Mitte“ sind bisher nicht bekannt.

Libyens Volkskomitees debattieren Entscheidungen von lokaler Bedeutung. Bei relevanten Beschlüssen gelten sie jedoch – ebenso wie der Volkskongreß – als Abnickinstanz für Gaddafis Entscheidungen. Der ist zwar die mächtigste Instanz des Landes – jedoch nicht unangefochten. Denn trotz der revolutionären Aufmischung ist Libyens Gesellschaft von Stammesstrukturen geprägt. Fast 30 Jahre nach Gaddafis Machtantritt ist nicht vergessen, daß er aus einem weniger einflußreichen Clan stammt. Konkurrierende Familien sollen für zahlreiche Putschversuche verantwortlich sein. Beide angeblichen Lockerbie-Attentäter gehören zu Clans, die als mächtiger gelten als der Gaddafis. Ein guter Grund, die Entscheidung über ihr Schicksal an das Volk zu delegieren. Thomas Dreger