Sozialismus, direkt vor Kuba gerammt

■ Enzensbergers Poem vom „Untergang der Titanic“ strandet im Bremerhavener TIF

„Er ist ein Schauspiel von atemberaubender Schönheit“, schreibt Hans Magnus Enzensberger über den „Untergang der Titanic“: „Er ist Kunst. Er schafft Arbeitsplätze. Er geht uns allmählich auf die Nerven. Er kommt wie gerufen.“ Prophetische Worte, Enzensberger hat sie vor 20 Jahren geschrieben. Sein Vers-Opus „Der Untergang der Titanic“ hatte jetzt in einer Inszenierung des Bremerhavener Stadttheaters Premiere. Und siehe da: Regisseurin Sabine Hayduk beweist, daß die Entscheidung für diese Ausgrabung eines fast vergessenen Enzensberger-Textes keineswegs kokett auf den Trend schielt, sondern ihn – ein Jahr nach der überschwappenden Titanic-Welle – noch einmal zum Thema macht.

Auf der Titanic in Bremerhaven befinden sich vier Männer und zwei Frauen. Der Raum – das feine, kleine Theater im Fischereihafen – mit seiner Hafenatmosphäre ringsrum ist denkbar passend und Hayduk nutzt ihn, indem sie den gesamten Raum zur Bühne macht und die Trennung zwischen Bühne und Parkett ansatzweise aufhebt. So geht das Publikum an Bord der Titanic, schon zu Beginn vom Steward (Guido Fuchs) zum exklusiven Dinner im „Palmengarten“ empfangen. Die Darsteller verkörpern wechselnde Figuren. Sie bewegen sich in aufflackernd kurzen Szenen zwischen Bühne und Publikum. Am Bühnenrand sitzt ein Schriftsteller an der Schreibmaschine (Berndt Stichler). Er zieht die Fäden, er greift ins Geschehen ein, aber – anders als bei Enzensberger – ist nicht mehr der allwissende Erzähler. Er weiß, wie die Geschichte endet und ist doch Teil des Titanic-Personals, auch er tanzt und singt mit den anderen Gästen mit. „Hören wir endlich auf, mit dem Ende zu rechnen! Wer glaubt schon daran, daß er daran glauben muß?“ Welche Geschichte will die Regisseurin erzählen? In seinen komplexen, anspielungsreichen 33 Gesängen und 16 Zwischentexten – vom Autor als Komödie tituliert – läßt Enzensberger einen Dichter 1969 in Havanna und ein Jahrzehnt später in Berlin nachdenken. Sein Poem über den Untergang der Titanic wird zum Abgesang auf die großen sozialistischen Träume. Der Dichter sieht den Eisberg direkt vor dem Hafen von Havanna auftauchen, er spürt in der Stille, wie der Sozialismus gerammt wird.

In Patricia Beneckes Text-Einrichtung werden die Gesänge kräftig geschüttelt und geliftet. Der verlorene Traum des engagierten Poeten wird gekappt; es bleibt die makellose Sprache, mit der Enzensberger die Fakten knapp und lakonisch poetisiert, es bleibt die weitsichtige Kritik an der Vermarktung des Titanic-Mythos, und es bleibt der Sarkasmus der Zeitgenossen, die nicht merken, auf welchen Untergang sie zufahren. „Das Dinner geht weiter“, singen die elegant gekleideten Gäste des unsinkbaren Luxusdampfers, und der führende Ingenieur (Kay Krause) läßt sich seelenruhig im Dampfbad die Zehennägel maniküren. Hayduks Inszenierung hat Tempo und Witz. Und trotz einiger unnötig flacher Anspielungen auf Camerons Titanic-Hit mutet sie dem Publikum außergewöhnliche Kost zu. Das Resultat ist erstaunlich: Enzensbergers Poem muß gar nicht mehr bebildert werden, denn Hollywoods Bilder hat heute jeder im Kopf, und sie werden bei den Worten vom langsam steigenden Wasser automatisch abgerufen. Das Gedicht wird zum Nachspann auf den Film, aber der späte Nachspann wird – ganz in Enzensbergers Sinn – zum Gedanken. Hans Happel

10., 16. und 22.12., je 20 Uhr, im Theater im Fischereihafen (TIF)