Der soziale Frieden der Stadt ist in Gefahr

■ Lebensverhältnisse driften auseinander, Armutspotential und Ungleichheit wachsen: Die neue Berlin-Studie zeichnet ein niederschmetterndes Bild von der sozialen Situation Berlins

Noch ist Berlin eine Stadt, in der weitgehend gewahrt ist, was man den sozialen Frieden nennt. Noch ist Armut kein Massenphänomen. Sozialstaatliche Maßstäbe wie ausreichende Angebote für die Kinderbetreuung und eine umfassende medizinische Versorgung bestehen auf hohem Niveau. Noch. Denn die sehr unterschiedlichen sozialen Lebenslagen in den 23 Berliner Bezirken bewirken eine schleichende Polarisierung in der Hauptstadt. „Armut wird zunehmend nicht mehr verheimlicht und versteckt, sondern vor allem von jugendlichen Cliquen aggressiv zur Schau getragen“, konstatieren die Wissenschaftler in der Berlin-Studie für die Bereiche „Soziale Lage“ und „Sozialer Wandel“.

Die Fakten sind durchaus beunruhigend: In Berlin war im Jahr 1997 im Jahresdurchschnitt jede fünfte Person unter 25 Jahren arbeitslos gemeldet. Im vergangenen Jahr haben fast 150.000 Haushalte in Berlin Sozialhilfe als laufende Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten. Im Vergleich zu 1996 bedeutet dies immerhin eine Steigerung um 15,6 Prozent. Die größte Gruppe dabei ist die der alleinerziehenden Frauen. Das mittlere Haushaltseinkommen beträgt in den sechs Innenstadtbezirken (Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Tiergarten, Wedding und Kreuzberg) durchnittlich nur 2.350 Mark, in den übrigen Bezirken dagegen 3.000 Mark.

Neben Frauen, Langzeitarbeitslosen und SozialhilfeempfängerInnen sind insbesondere Jugendliche nichtdeutscher Herkunft von Armut betroffen. Doch auch immer mehr Menschen der mittleren sozialen Schichten leben in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen mit bescheidenen Einkommen, haben die MitarbeiterInnen der Studie herausgefunden. Am oberen Ende der sozialen Skala verlangen Spitzenverdiener und Bezieher hoher Renten dagegen eine Lebensqualität, für die sie bereit sind, fast jeden Preis zu zahlen. Eine Sozialpolitik, die sich dieser auseinanderdriftenden Lebensverhältnisse und des neuen Armutspotentials annimmt, ist dringend vonnöten.

Das „psychosoziale“ Klima in der Stadt, so die Analyse, ist angespannt und wird durch die brisante Lage auf dem Berliner Arbeitsmarkt verschärft. Umfrageergebnisse verweisen darauf, daß die Stadthälften mental und ökonomisch sich eher auseinanderbewegen statt zusammenwachsen.

Die „Dämpfung“ sozialer Ungleichheit muß, so die Empfehlungen der Studie, als wichtigster Standortfaktor Berlins gesehen werden. Die Entscheidungen, Investitionsmittel auf den Ostteil der Stadt zu konzentrieren, die Einkommen im öffentlichen Dienst anzugleichen und Ostberliner Plattenbausiedlungen aufzuwerten, haben den sozialen Frieden laut Analyse in der Stadt bewahrt. Doch, so das einhellige Urteil, sie reichen nicht aus: „Die Stadtpolitik steht vor der Aufgabe, die soziale Polarisierung nicht so weit kommen zu lassen, daß der soziale Frieden gefährdet ist und damit die Lebensqualität und die wirtschaftliche Effizienz der Stadt beeinträchtigt werden.“

So fordern die Forscher der Berlin-Studie, daß die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Stadtbereichen nach wie vor „Daueraufgabe der Politik“ sein muß. Die Entwicklung der Stadt müsse außerdem auch im stärkeren Maße wieder zur Sache der Bevölkerung werden. So sei vor allem das „Erleben von Gemeinsamkeit“ wichtig. Besondere Aufmerksamkeit müßten städtische Räume und Einrichtungen bekommen, die von möglichst vielen Bevölkerungsgruppen gemeinsam genutzt werden, unabhängig von Alter und sozialer Position: der Park und der Fußgängerboulevard, die S-Bahn, der Stadtplatz, das Freibad. In den Wohnquartieren sind neue Kooperationen zwischen Selbsthilfe, organisierter Gemeinwesenarbeit und kommerzieller Dienstleistung gefragt.

Eine sozial gerechte Stadtpolitik für Berlin muß eine „maßgeschneiderte Sozial- und Versorgungspolitik“ bieten – etwa für einkommensschwache alleinerziehende Frauen, für Jugendliche ohne Obdach oder für Menschen ohne ausreichende Qualifizierung. Sie muß klientel-, mittel- und raumspezifisch angelegt sein.

Denn obwohl es in Berlin unzählige Initiativen und Modellprojekte gibt und diese richtungsweisend arbeiten, ist der sozialpolitische Spielraum in Berlin äußerst gering. Das liege, so die Studie, unter anderem an den unterschiedlichen Zuständigkeiten für Sozial-, Beschäftigungs- und Wohnungspolitik und an gravierenden Abstimmungsproblemen. Eine effektive Verwaltungsreform ist gefragt, aber auch die Ausweitung der bezirklichen Gestaltungskompetenz, die Übertragung von Aufgaben an freie Träger und die Stärkung der Eigenverantwortung sozial benachteiligter Gruppen.

Da auch die Probleme der Nichtdeutschen – Ende 97 lebten 440.000 melderechtlich registrierte Ausländer in Berlin – sehr viel differenzierter geworden sind und sich je nach Herkunftsland, Aufenthaltsdauer und Ziel des Aufenthalts richten, ist eine konsequentere Einbindung der Ausländerpolitik in die Stadt, zum Beispiel nach dem Amsterdamer Vorbild, „von allergrößter Bedeutung“. Julia Naumann