Berlin auf dem Weg in ein neues Jahrtausend

Etliche Visionen für die neue Hauptstadt sind bereits gescheitert. Mit Geldern der Europäischen Kommission hat der Berliner Senat jetzt eine illustre Gruppe von Wissenschaftlern beauftragt, Berlins Wirklichkeit zu untersuchen und seine Zukunft zu erforschen  ■ Von Barbara Junge

Seit Jahren bereits geben sich Prominente aus Wissenschaft und Politik auf Kongressen zur Zukunft der Hauptstadt die Klinke in die Hand: Da referiert der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer über die Optionen der Hauptstadt, da warnt sein Kollege Ralf Dahrendorf vor überzogenen Erwartungen an die Berliner Zukunft, da mahnt Alfred Grosser zur europäischen Bescheidenheit und Toleranz.

Und Berlin selbst ringt mit seiner zukünftigen Bedeutung in der viel zitierten „Berliner Republik“. Ein realistischer und zugleich auch noch positiver Blick auf die Zukunft der Hauptstadt ist dabei bislang nicht gelungen. Internationales Dienstleistungszentrum sollte Berlin werden, Tor nach Osteuropa, Metropole im europäischen Reigen, Global City – großartige Visionen für eine großartige Stadt in den 90er Jahren. Allein – die Berliner Realitäten sehen anders aus. Im Jahr vor dem Umzug der Bundesregierung dümpelt Berlin wirtschaftlich wie gesellschaftlich orientierungslos in der ostdeutschen Provinz vor sich hin.

Die Crème de la crème de Berlin-Forscher soll der Hauptstadt jetzt sagen, wo es langgeht. Im Auftrag der Europäischen Kommission und des Berliner Senats wird derzeit eine wissenschaftliche Analyse vorgenommen, auf deren Grundlage die künftige Entwicklung Berlins erarbeitet werden kann: die Berlin-Studie.

Wo liegen die Stärken Berlins, wo seine Schwächen, wie kann es mit dieser Stadt weitergehen und inwiefern muß sich auch die Politik dafür ändern, so lauten die Fragen. Alle bisherigen Studien zu Berlin sollen dabei eingearbeitet, analysiert und bewertet werden.

Im wissenschaftlichen Powerteam sind Eberhard von Einem, sein Regionalforscherkollege Klaus Brake, Hans Heuer, der in Berlin-Brandenburg Investoren berät. Namen wie der des Bielefelder Konfliktforschers Wilhelm Heitmeyer, der Direktorin des Berliner Hebbel-Theaters Nele Hertling oder des ehemaligen Präsidenten des Umweltbundesamtes Heinrich Freiherr von Lesner zieren die Liste des begleitenden Beirates.

Im Gegensatz zur personellen Besetzung allerdings fällt der Finanzrahmen etwas bescheidener aus. Gerade mal eine halbe Million Mark steht derzeit dem Think- tank aus 15 Wissenschaftlern zur Verfügung. Die Mittel kommen von der Europäischen Union, den einzelnen Berliner Senatsressorts und weiteren Sponsoren. Damit sollen die Wissenschaftler Bilanz ziehen: der bisherigen Berlin-Forschung, der Probleme, der Potentiale der neuen Hauptstadt, realistischer Zukunftsoptionen. Im Gegensatz zu bisherigen Gremien der Stadtentwicklung wie zum Beispiel dem Stadtforum, geht es hier allerdings um die Verknüpfung von Wissenschaft und der praktischen Politik.

„Das Ergebnis soll handlungsorientiert sein“, nennt Staatssekretär Gerd Wartenberg, der für die Berliner Senatskanzlei das Projekt koordiniert, die Zielsetzung. „Es gibt unheimlich viele Einzelstudien über Berlin, diese Studie soll die Erkenntnisse zusammenfassen und integrieren“.

Mit den Potentialen wird sträflich umgegangen

Kein Schnellschuß diesmal, darüber ist man sich bereits einig. Zwei Jahre Zeit haben sich die Wissenschaftler gegeben. Eine erste Vorphase des Projekts ist gerade abgeschlossen – die erste allgemeine Statusanalyse, sozusagen ein Grundkurs Berlin. Stärken hat Berlin demnach etliche, Probleme noch mehr, und umgegangen wird mit den Potentialen der Stadt sträflich, das schreiben Brake & Co in der Bestandsaufnahme Berlin ins Stammbuch.

Und schon jetzt zeichnet sich eine übergreifende Orientierung in den verschiedenen untersuchten Politikfeldern ab. „Ein zentrales Problem Berlins ist, daß mit den Potentialen der Stadt – von denen wir viele sehen – oft kontraproduktiv umgegangen wird“, faßt Klaus Brake zusammen. „Zaghaftigkeit oder Resignation, Rechthaberei oder Besitzstandswahrung, Illusionäres oder zu Abstraktes“, das, so Brake, wolle man aber schon mit Hilfe der Studie aufbrechen.

Auf der Haben-Seite hat Berlin jedoch tatsächlich einiges zu bieten: Da finden sich der Ost-West- Standort und die Hauptstadtfunktion, das lebhafte urbane Milieu und die innovativen Köpfe, die zwischen Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft wechseln, und schließlich die Reserven, die die einstmals geteilte Stadt im Umbruch an Arbeitskräften, Flächen und ökonomischer Struktur aufzubieten hat.

Was hoffnungsvoll klingt, stößt an harte Schranken. Die Forscher stellen auf der anderen Seite nämlich eine sich vertiefende soziale Polarisierung, eine sich formierende „Kultur der Armut“ fest, eine Grundlage von Kriminalität, Rechtsextremismus und Verwahrlosung des öffentlichen Raums.

Die Politik der Stadt besteht im Beharren

Die innovativen Potentiale der Stadt würden weiter davon gehemmt, daß sich die Politik der Hauptstadt eher durch Beharren auf überholten Pfründen als durch flexible Ausrichtung auf Neuerungen auszeichnete. Die aber wären nötig, um die zurückgebliebene ökonomische Struktur, die schlechte Qualifikation großer Teile der Bevölkerung, die dramatische Arbeitsmarktlage und die „Subventionsmentalität“ in den Griff zu bekommen.

Nun wollen die Wissenschaftler den nächsten Schritt erarbeiten: die Zusammenstellung von Handlungsfeldern. Im Februar kommenden Jahres sollen diese dann vorgestellt werden. Und im Mai 1999 geht es dann ans Eingemachte: „Strategien, Programme Maßnahmen; Politikverflechtung Berlin – Bund – Europäische Union“, unter diesem Leitmotiv ist geplant, konkrete politische Schritte zu formulieren.

Bürgernah soll die Entwicklung sein

Im Herbst dann, so hoffen Beteiligte, könnte eine Publikation neben den eingeleiteten Arbeitsaufträgen den Abschluß des Projektes bilden.

Im Zentrum des Projekts, so der selbstformulierte Ansatz, steht die „zivilgesellschaftliche Entwicklung Berlins“. Bürgerzentriert soll die Studie sein, die Menschen, die sich für die Entwicklung einer weltoffenen Metropole einsetzen wollen, sollen am Prozeß ebenso beteiligt werden wie Unternehmer, die in der Hauptstadt auf Investitionen setzen. Damit Berlin einerseits seine wirtschaftlichen Potentiale ausschöpft, daneben aber auch wieder eine sozial ausgeglichene Stadt werden kann. „Berlin gilt als weltoffen, und Berlin wird die ausgeprägteste Innovationsfähigkeit in Deutschland zugeordnet“, betont Brake – aus diesem Potential will man schöpfen, um „Berlin zu bewegen“.