Der Geschmack der Klänge

■ Unter dem eigenartigen Titel „Das Rohe und das Gekochte“ begibt sich die „projektgruppe neue musik“ an diesem Wochenende auf die Suche nach den Mythen in zeitgenössischer Musik / Ein Gespräch mit dem Gruppenältesten

Meistens sitzen sie in einem Hinterhaus an der Buchtstraße in der Bremer Innenstadt und hecken neue Pläne aus. Seit 1991 veranstalten die Aktiven der „projektgruppe neue musik“ jährlich ein Festival, das die Musik jedes Mal unter einem Generalthema unter die Lupe nimmt und längst über den Geheimtip-Status hinausgewachsen ist. Die achte Auflage findet an diesem Wochenende statt. Die Tagung mit Konzerten und Diskussionen trägt den Titel „Das Rohe und das Gekochte“ und erforscht die Dialektik von Mythos und Moderne in zeitgenössischer Musik. Daß auf die TeilnehmerInnen spannende Hör- und Gesprächserlebnisse zukommen, erläuterte der Gruppenälteste und Musikwissenschaftler an der Bremer Hochschule für Künste, Nicolas Schalz, im taz -Gespräch.

taz: Die Tagung hat einen eigenartigen Titel. Geht es diesmal um die Kulinarik in neuer Musik?

Nicolas Schalz: Das mit der Kulinarik ist nicht daneben. Der Titel stammt von Claude Lévi-Strauss. Der zweite Band seiner „Mythologiques“ hat den Titel „Le cru et le cuit“, „Das Rohe und das Gekochte“. Es geht ihm in seinen Studien der Mythen von verschwindenden Völkern in Afrika oder Südamerika auch um das kulinarische Dreieck „roh – gekocht – verfault“. Er hat in seinen Untersuchungen herausgefunden, daß die Mythen dieser verschiedenen Völker immer einen gemeinsamen Grund haben. Er kam zu der Überzeugung, daß Mythen zu Erzählungen verdichtete hochzivilisierte Ereignisse sind. Er trat damit in Widerspruch zur Kolonialisierungsintention der Ethnologie, die sagte: „Das ist das Rohe, und wir sind das zivilisierte Abendland als Gipfel der Kultivierung.“ Dagegen hat Lévi-Strauss gesagt: „Es gibt eine große Palette zwischen nicht-roh, gedünstet, gebraten, gegart und gekocht.“

„Das Rohe und das Gekochte“ ist Ihre achte Tagung. Wer hat sich das Konzept ausgedacht, und an wen wenden Sie sich?

Wir sind eine Gruppe, die schon 1989 angefangen und nach zweijähriger Diskussion die erste Tagung veranstaltet hat. Die Intention unseres Festivals war von Anfang an, das Sprechen über neue Musik mit dem Erklingen zusammenzubringen. So mühsam das Reden über Musik auch ist: Wenn wir nicht darüber reden, bleibt dieser Dissens zwischen dem bürgerlichen Publikum, das in die Klassik und Romantik geht, und neuer Musik bestehen. Ich glaube, daß die Rechnung allmählich in Bremen aufgeht. Nach diesen acht Jahren kommen immer Menschen dazu. Das Konzept ist in Deutschland immer noch einzigartig.

Das zweite ist die Auswahl eines philosophisch-ästhetischen Themas der Zeit. Ich glaube, daß uns das gelungen ist. Es hat sich immer herausgestellt, daß Philosophen und Ästhetiker jeweils an den Themen gearbeitet haben. Bei der Tagung im letzten Jahr über das Erinnern und Vergessen sind wir von der Computergesellschaft ausgegangen: Wir können immer mehr und immer besser speichern, aber ist damit unser Gedächtnis besser geworden? Das hat ausgestrahlt auf das diesjährige Thema: Daß das Gedächtnis der Mythen auch ein Gedächtnis ist, das körperlich und seelisch in der Menschheit verankert ist. Und da können wir nicht einfach über einen Computer drankommen.

Woran denken Sie, wenn Sie das Wort Mythos hören?

Nicht an den banalisierten Mythos wie bei Boris Becker oder Lady Di. Wenn wir an Mythos denken, dann hat das Wort die Bedeutung einer Erzählung. Wie etwa in der Odyssee, bei Kassandra oder Ödipus wird eine Geschichte erzählt, die von einem Verhängnis handelt. Dieses Verhängnis kann man kaum abschütteln. Für uns ist der Mythos dieses Grundwissen der Menschen über sich selbst und die Frage, was diese Mythen uns heute noch sagen können.

Sie meinen die Tragödie?

Zum Beispiel. Und wenn ich von unserem Eröffnungsstück „Kassandra“ von Iannis Xenakis ausgehe, finde ich die Bestandteile des Mythos. Erstens wird die große Auseinandersetzung von Kassandra mit dem Chorführer erzählt. Xenakis hat das Ganze zweitens in einer Singstimme und einem Schlagzeug gebannt. Drittens kommt hinzu, daß Xenakis bei aller Modernität für die Singstimme einen archaischen Duktus gefunden hat. Das ist für die von einem Bariton gesungene Kassandra eine hohe Falsettlage. Und der Chor ist die Bruststimme des gleichen Sängers. So legt Xenakis den Dialog in die eine Person und sieht den Mythos in eine Auseinandersetzung der Psyche mit Frage und Gegenfrage, mit Erkenntnis und Abwehr von Erkenntnis. Das ist ein Motto der ganzen Tagung.

Das Kassandra-Stück klingt sehr stark nach Peking-Oper. Liegt das an meinem begrenzten Hörverständnis?

Nein. Xenakis stammt aus dem Grenzgebiet zwischen Rumänien und Griechenland und hat dort eine ganz eigenartige Vokalmusik gehört. Er ist verbunden mit einer Art Diktion, die sehr viel stärker im Osten beheimatet ist. Bei der Tagung tritt auch ein mongolisches Ensemble auf, und das macht etwas Vergleichbares. Das wird bei den Zuhörern eine sehr enge Verbindung erzeugen.

Es gibt keine CDs aus Troja oder aus den Inkastädten. Wie setzen sich Komponisten mit diesem Problem auseinander?

Der Xenakis hat sich sehr stark mit dem antiken Drama und der Rolle des Chores beschäftigt. Und für den Komponisten Julio Estrada, dessen Familie aus Mexiko stammt, wurde es im Lauf seines Lebens immer wichtiger, seinen Ursprüngen nachzuforschen. Dies aber nicht, um zu kopieren, was nicht kopierbar ist, sondern um aus den Trümmern des Wissens etwas über die Qualität und den Geist dieser Musik herauszufinden. Wie Bartók das mit der ungarischen Musik gemacht hatte, hat er ein umfangreiches Werk zur präkolumbischen Musik erarbeitet. Für ihn ist es wichtig, daß der Mythos wiederbelebt wird, aber als zerstörter. Das ist auch unsere Stoßrichtung: Auf keinen Fall in diese Esoterikmythen zu springen und die Vergangenheit zu verklären, wie es in allen Ideologien der Fall ist.

Wenn ich Ihnen in diesem Zusammenhang das Wort „Weltmusik“ entgegenschleudere, was antworten Sie dann?

Dieser Art von Weltmusik, wie sie auf vielen Festivals geübt wurde, stehen wir ziemlich ablehnend gegenüber, weil die zu leicht so tun, als ob wir alle Brüder und Schwestern oder Kinder einer gleichen Kultur sind. Das ist überhaupt nicht der Fall. Dabei würden wir die Fremdheit der Kulturen übergehen. Viele Komponisten bauen einfach musikalische Elemente aus anderen Kulturen ein und tun so, als wäre alles das Gleiche. Aber damit haben Iannis Xenakis oder Estrada überhaupt nichts zu tun. Wir werden bei der Tagung auch keinen Versuch machen, die Fremdartigkeit der Mongolen rüberzuziehen. Man wird Analogien feststellen. Aber die Musik, die aus einer Naturreligion kommt und die Landschaft und Tiere besingt, kann man nicht einfach in einer christlich geprägten Kultur vereinnahmen.

Fragen: Christoph Köster

Tagung „Das Rohe und das Gekochte“ vom 11. bis 13. Dezember mit Konzerten, Diskussionen und Vorträgen, unter anderem von Micha Brumlik. Eröffnungskonzert am Freitag, 11. Dezember, um 19 Uhr in der Kirche Unser Lieben Frauen. Kontakt Tel.: 33 99 350