Vorstellungen von Freiheit

■ In langen und ruhigen Einstellungen erzählt der Film „Pelym“ vom Leben in sibirischen Straflagern am nördlichen Rand des Urals

Die junge Frau klagt. Eines ihrer Kinder sei krank, einen Arzt gebe es nicht. Das andere Kind lerne nichts, weil die Schule zu weit weg sei. Arbeit, Geschäfte, Geld: All dies fehle. „Wo die Lager geschlossen werden“, sagt sie, „sterben auch die Dörfer.“ Fast trotzig blickt sie unter ihrer Pelzkappe in die Kamera: Außer dem Wodka bleibe nicht viel. Im Hintergrund sieht man ein baufälliges Häuschen in einer verschneiten Einöde. Pelym heißt die Region am nördlichen Rand des Urals; seit über 400 Jahren gibt es hier, wo Sümpfe und dichte Wälder den Gedanken an Flucht im Keim ersticken, Straf- und Arbeitslager. Im Winter fallen die Temperaturen auf minus 40 Grad, im Sommer lassen die Mücken keine Ruhe.

Andrzej Klamt und Ulrich Rydzewski bannen Leben und Alltag in dem nordrussischen Landstrich in ruhige Bilder. Für ihren Film „Pelym“, eine deutsch-russische Koproduktion, die beim diesjährigen Münchner Dokumentarfilmfestival ausgezeichnet wurde, sprachen sie mit Häftlingen, Wachmännern, ehemaligen Lagerinsassen und mit den Bewohnern, die dem allmählichen Verfall ihrer Heimat mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Gleichmut begegnen. Die Gespräche kreisen immer wieder um die Vorstellungen, die sich die Menschen von Freiheit machen.

Gleich am Anfang fehlen einem alten Mann, einst Häftling in Pelym, die Worte, um den Unterschied zwischen dem Leben im Lager und dem Leben draußen zu erklären. „Freiheit ist Freiheit“, sagt er, fast ungeduldig gestikulierend. Ein Wachmann weiß von den Häftlingen: „Diese Menschen wollen und können nicht in Freiheit leben.“ Und ein knapp 50jähriger Lagerinsasse, der den größten Teil seines Lebens in Haft verbrachte, scheint dies zu bestätigen: „Die Freiheit hat mir, ehrlich gesagt, gar nicht gefallen.“

Klamt und Rydzewski verzichten klugerweise auf jede dramatische Zuspitzung. Daß das Leben im Lager hart und bisweilen unmenschlich ist, müssen sie nicht explizit zeigen, Andeutungen reichen ihnen aus. Darüber hinaus vertrauen die beiden Regisseure ganz und gar der Kraft der Bilder. Ihr Film nimmt sich, was die Menschen in Pelym haben: Zeit. Lange währen die Einstellungen auf Figuren und Landschaften; ein Rhythmus ergibt sich aus dem Wechsel von Innen- und Außenaufnahmen, von Close-ups und Totalen, von Farben: Weiß markiert den Winter, üppiges Grün den Sommer. „Hier ist es ruhig, und unser Lebensrhythmus ist beständig“, sagt ein Lagerinsasse gegen Ende des Films. Bessere Bilder hierfür hätte „Pelym“ nicht finden können. Cristina Nord

„Pelym“. Regie: Andrzej Klamt u. Ulrich Rydzewski, BRD/Rußland 1998, 110 Min. OmU, heute und morgen, jeweils 19 Uhr, im Babylon, Rosa-Luxemburg-Str. 30