Virtueller Ausbruch ins Internet

Erstmals können Gefangene ihren Knastalltag im Internet vorstellen: Die Website „Planet Tegel“ zeigt die bis ins kleinste Detail reglementierte Welt hinter den Mauern der Vollzugsanstalt Berlin-Tegel  ■ Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova

Eine Sirene ertönt. Tor 1 geht auf. Die Sirene ist bedrohlich nah und doch weit weg. Die Eisentür ist gewaltig, doch sie öffnet sich lautlos. Ebenso lautlos geht sie wieder zu. Wirklich und unwirklich zugleich. So muß es sein, wenn geheime Wünsche wahr werden. Wünsche, die so schön und hochgesteckt sind, daß man vielleicht gar nicht will, daß sie sich erfüllen.

Das Gefängnis ist einer der Orte, die solche Wunschvorstellungen nähren. Von außen wecken die Mauern nicht nur Angst, sondern auch eine schaurige Neugierde auf die unbekannte Welt dahinter. Nun ist es möglich, diese Welt kennenzulernen, ohne kriminell zu werden. Erstmals in der Justizvollzugsgeschichte in Deutschland ist der virtuelle Durchbruch gelungen. Ausgerechnet in Deutschlands größter Anstalt nehmen Gefangene Kontakt mit der Außenwelt via Datenautobahnen auf.

Die Justizvollzugsanstalt Tegel im Norden Berlins hat einer Handvoll der insgesamt 1.600 Gefangenen erlaubt – vom Betrüger über den Drogendealer bis zum Mörder –, ihre selbstgestalteten Internetseiten in die ganze Welt zu senden. Die Sicherheitsbedenken waren groß, doch leicht zu zerstreuen: Der Computer, an dem die Gefangenen in einem Schulungsraum der Anstalt arbeiten, ist nicht online zu betreiben.

Was auf den ersten Blick nach Schwimmen auf dem Trockenen klingt, ist für die Gefangenen, die ihren eigenen Alltag dreidimensional betrachten können, ein bis dato unbekannter Zugang zur Welt der grenzenlosen Kommunikation. Per Mausklick werden die hohen Mauern des Gefängnisses überwunden. Drinnen und Draußen werden aufgehoben und verschmelzen. Es geht den Gefangenen nicht darum, über ihre verlorene Freiheit zu lamentieren oder sich als Unschuldslämmer darzustellen. Sie wollen den Gefängnisalltag so realistisch wie möglich zeigen.

Das gelingt sowohl mit beeindruckenden Bildern von Gefängnisgängen im 360-Grad-Winkel samt Geräuschkulisse als auch mit der dreidimensionalen Darstellung der panoptischen Bauweise des einhundert Jahre alten Gefängnisbaus. Detailliert sind Alltagsabläufe wie die Vorschriften fürs Einkaufen, die Mühen der ärztlichen Versorgung, der Tauschhandel der Gefangenen untereinander oder die Kunst des Tätowierens dargestellt. Wie ein roter Faden zieht sich der Begriff „Vormelder“ durch die Themen – ein Antragsformular, das man selbst zum Husten braucht, wie die Gefangenen ulken.

Morgen werden die zwei Welten, die gegensätzlicher kaum sein könnten, zusammengeführt. Dann wird das Projekt „Planet Tegel“ im Kultursaal der Justizvollzugsanstalt vorgestellt. Ermöglicht wurde es mit Hilfe eines Stipendiums des Berliner Theaterregisseurs Roland Brus an der Akademie Schloß Solitude bei Stuttgart. Unterstützung kommt zudem von der Theatergruppe „Aufbruch“, die seit knapp zwei Jahren versucht, die verborgene Realität hinter Gittern sichtbar zu machen, dem Verein „Kunst & Knast e.V.“ und der Sozialpädagogischen Abteilung der JVA Tegel. In Zusammenarbeit mit der Knastzeitung Lichtblick werden Tausende Flyer verteilt, um drinnen und draußen für das Projekt zu werben.

Von einem „Loch in der Mauer per Internet“ spricht Dittmar, einer der sechs Gefangenen, die sich in den vergangenen Monaten zweimal getroffen und die Website zusammen mit einem Designer gestaltet haben. Dittmar, der seit sechs Jahren wegen Betrugs sitzt und 2003 entlassen wird, hofft wie die anderen auf rege Resonanz von draußen. Eingehende E-Mails erreichen die Knackis über externe Projektmitarbeiter, die die Nachrichten nach Tegel weiterleiten. Antworten erfolgen auf dem gleichen Weg.

Dittmar hat auf der Website einen Teil seiner Lebensgeschichte aufgeschrieben, um den Leuten draußen zu vermitteln, daß ins Gefängnis nicht nur Verbrecher, „sondern auch ganz normale Leute“ kommen. Da erfährt man, daß der 32jährige, „von der Wende mitgerissen“, 1990 einen Kurierdienst aufgezogen und unter dem Konkurrenzdruck in kriminelle Machenschaften geriet. „Im täglichen Leben kommt es manchmal zu Situationen, die der Wegbereiter für einen Aufenthalt hinter Mauern sind“, schreibt er.

Der gelernte Chemielaborant Fred, der wegen der Herstellung von Ecstasy sitzt und demnächst entlassen wird, nennt das Projekt ein „Sprengen der Mauern“, die vergleichbar mit der Mauer zwischen Ost und West seien. „Es ist ein Versuch, Emotionen rüberzubringen“, sagt er. Denn: „Wir sind mehr als nur Straftäter.“ Fred hofft, daß die Kommunikation mit „draußen“ der erste Schritt in Richtung „Surfen im Internet unter Bewachung“ sein könnte.

„Planet Tegel“ ist ein eigener Mikrokosmos, der neben Körpercodes wie Tätowierungen auch seine eigene Sprache hat. Die findet sich im virtuellen Knastwörterbuch. Dort erfährt man beispielsweise, daß ein „Koffer“ ein Päckchen Tabak und eine „Bombe“ ein Glas löslicher Kaffee ist. Wenn jemand abhaut, macht er nicht die Fliege, sondern „einen Fisch“. Statt aufs Klo gehen die Gefangenen auf den „Bello“. Wenn also das Anstaltsessen wieder mal ungenießbar ist, heißt es „Mein Bello hat heute wieder großen Appetit“, erklärt Fred.

Um den „Planet Tegel“ zu erforschen, braucht man etwa zwei Stunden. Danach ist nicht nur die voyeuristische Neugierde befriedigt. Man weiß auch, warum es ganz gut ist, daß sich der eine oder andere geheime Wunsch nicht erfüllen läßt.

Ab Freitag: http://www.planet-tegel.de . E-Mails können an info @planet tegel.de geschickt werden.