Neun Minuten Präsenz

Gunda Röstel hat sich in den letzten zwei Jahren vorsichtig in die Bonner Szene eingeführt, nun steht sie unangefochten an der Spitze der Grünen und bereitet wieder ihren Abgang vor  ■ Von Dieter Rulff

Angela Merkel hat Stil. Und „zum guten Stil“ gehört für sie, der neuen Regierungskoalition „etwas zuzutrauen“, auch wenn das bislang Gebotene „eine Enttäuschung auf der ganzen Linie“ sei. Während der Generalsekretärin der CDU die Enttäuschung aus den hängenden Mundwinkeln rinnt, blitzen die Augen ihres Nachbarn auf. Ob er auch enttäuscht sei. – Keine Spur. Guido Westerwelle hat „nichts anderes erwartet“ und verbucht damit den ersten Lacherfolg des Abends.

Sonntag, 22 Uhr. Spiegel-Chef Stefan Aust hat zum „Talk im Turm“ geladen. Drei Minuten nach Sendebeginn ist die Rangfolge der Oppositionspolitiker ausgemacht. Gunda Röstel weiß spätestens jetzt, wer ihr Kontrahent ist. Sie schiebt ihren Oberkörper nach vorn. Weit genug, um Offensive zu signalisieren, nicht zu weit, um noch den Eindruck gedämpfter Gelassenheit zu wahren. Den offenen Blick taxierend auf Westerwelle gerichtet, sparsam in den Gesten, hebt sie an zu dozieren: Die Regierung sei dazu da, zu regieren. Das habe die alte Regierung nicht geleistet, deshalb sei sie abgewählt worden. Das müsse man mal in aller Deutlichkeit festhalten.

Es sind Sätze wie diese, welche die Vorstandssprecherin der Grünen ihrem Gegenüber plötzlich so ähnlich erscheinen lassen. Sätze, die klare Kontur signalisieren, wo die Worte nur Undeutliches vermitteln. Worte aus der Bonner Politikwerkstatt, jahrzehntelang erprobt, vielseitig einsetzbar, vieles bedeutend und doch wenig besagend. Sie zu beherrschen gehöre zum Handwerk eines Politikers, heißt es. Westerwelle ist so ein virtuoser Wortklempner. Er schraubt die Sätze zu einem geschlossenen System kommunizierender Röhren, aus denen, abgedichtet gegen widersprechende Erfahrungen, nur seine neoliberalen Ansichten tönen. Auch Röstels Rede ist hermetisch, wenngleich ihre Botschaft eine andere ist. Sie nennt später einmal Westerwelles Stil „glatt“ und „stromlinienförmig“. Das hindert sie nicht, selbst hinter solcher Glätte Schutz zu suchen. Während Röstel hinter ihren Ausführungen verschwindet, geht Westerwelle in den seinen auf. Er macht sich zum Thema, spielt auf der Klaviatur der Empörung und Enttäuschung, der ganzen einstudierten Gefühlsseligkeit, die einer Talkshow erst ihren Unterhaltungswert verleiht. So wirkt die Grüne bisweilen noch kühler als der als cool verschriene Liberale. Im allabendlichen Kampf um Quoten geht Westerwelle diesmal als Sieger hervor. Dreizehn Sendeminuten lang beherrscht er den Bildschirm, Röstel bringt es auf neun und rangiert damit noch vor der abgeschlagenen Angela Merkel. Mit der eint sie aus geteilter Geschichte „so etwas wie ein Wir-Gefühl“, doch die „ähnliche Biographie“ der beiden Frauen vermag sich an diesem Abend nicht durchzusetzen. Ossi zu sein, bekennt Röstel später mehr nostalgisch als programmatisch, sei Teil ihres Profils. In Bonn ist sie eine der wenigen Politikerinnen aus Ostdeutschland, denen die Herkunft weder Makel noch Mittel zum Zweck ist.

Schon als sie vor zwei Jahren für die Bundespolitik entdeckt wurde, fügte Gunda Röstel sich nicht so ganz in die deutsch-deutschen Vorstellungen. Sie kam aus dem Osten, war eine Frau und wurde dem realpolitischen Flügel zugeordnet – viel mehr war über die Sonderschullehrerin aus dem kleinen Ort Flöha bei Chemnitz nicht bekannt, die sich im Herbst 1996 um das Amt der Vorstandssprecherin der Grünen bewarb. Sie war von den Nach-Wende-Querelen der Bürgerbewegung unbelastet, deren moralischer Rigorismus war ihr fremd. Das allein machte sie schon für viele Linke attraktiv.

Die damals 34jährige wurde in den Medien als frisches Gesicht gefeiert, als Botin einer neuen Generation ostdeutscher Politiker, unideologisch, offen und pragmatisch. So gewann sie mit überraschender Eindeutigkeit ihre Wahl in einer Partei, die bis dahin darauf geeicht war, Politiker vor allem an ihrer Programmatik zu messen.

Danach wird es still um die Vorsitzende. Sie gilt als die Frau an der Seite von Jürgen Trittin. Sie kämpft darum, im „Haifischbecken Bonn“, wie sie es nennt, oben zu bleiben. Heute sagt sie, daß es nicht möglich sei, in zwei Jahren fünfzehn Jahre westliche Politikerfahrung zu kompensieren. „Vorsichtig“ sei sie geworden in dieser Zeit. Zu dieser Vorsicht gehört, daß sie kaum über die zugrunde liegenden Erfahrungen reden mag. Zu dieser Vorsicht haben sie nicht die Westerwelles genötigt, sondern die Beckmesser und Besserwisser in den eigenen Reihen. „Nach einem Jahr im Amt fiel die Grünen- Sprecherin Gunda Röstel erstmals auf – mit einem Fehler“, schreibt die Zeit, als Röstel zusammen mit Trittin im September 97 den ersten Entwurf eines Wahlprogramms präsentiert. Der trägt Trittins Handschrift, er hat darauf gedrängt, doch die katastrophale öffentliche Resonanz wird auch ihr angelastet. Mit Krista Sager, ihrer Vorgängerin aus Hamburg, wäre das nicht passiert, muß sie sich sagen lassen. Realpolitiker bemängeln ihr geringes Durchsetzungsvermögen gegenüber Trittin. Sie steht jedoch zu ihrem Vorgehen und damit zu Trittin. Mittlerweile sagt sie, es sei ein taktisch falsches Verhalten gewesen, Ausdruck mangelnder Eingebundenheit. Das hat sich geändert. Inzwischen koordiniert sie den informellen Realo-Kreis.

Die monatelange Auseinandersetzung um das Programm entglitt den Grünen zu einem Akt der Selbstzerstörung, bei dem sie zeitweise, wie Fischer schaudernd erinnert, „in den Abgrund schauten“. Mit diesem Niedergang der Grünen beginnt Gunda Röstels Aufstieg.

Bis dahin hat sie die Untiefen der ideologischen Debatten gemieden, sich nur auf Drängen und nach Rückversicherung zu der Frage der Militäreinsätze in Bosnien und ähnlich umstrittenen Themen geäußert. Nun steht sie für etwas, was bis dato in Grünen- Kreisen allenfalls als nachrangiges Kriterium guter Politik galt: die gesellschaftliche Akzeptanz. Ob Benzinpreis oder Nato-Politik, die Partei weiß zeitweise nicht mehr, prinzipiell Wahres von taktisch Falschem zu scheiden. In dieser Situation macht Röstel so etwas wie Lebenserfahrung in der Grünen- Debatte salonfähig.

Sie nimmt sich mit Verve der Probleme des Mittelstandes an und rekurriert dabei unvermittelt auf die Erfahrungen ihres Mannes, der sich nach der Wende selbständig gemacht und nun mit den Existenznöten des freien Unternehmers zu kämpfen hatte. Sie posiert für das Nachrichtenmagazin Focus auf einer Maschine aus dem sächsischen Traditionsrennstall MZ, um Werbung für das frisch eröffnete Motodrom von Hohenstein-Ernstthal zu machen. Sie kokettiert mit ihrer „engen Beziehung zum Rennsport“, mit dem sie und ihre beiden Brüder aufgewachsen seien, dieweil die Grünen in Rheinland-Pfalz noch für die Schließung des Nürburgringes kämpfen. Sie erläutert die umstrittenen Positionen ihrer Partei wie die entwicklungsbedingten und deshalb harmlosen Macken einer pubertierenden Schwester. Manchem geht diese Anbiederung an Volkes Stimmung zu weit. Kritik erfährt sie deshalb kaum, der Erfolg gibt ihr letztendlich auch recht. Sie ist die erste Parteivorsitzende aus dem Osten, die nicht an dieser Position verzweifelt. Die Bürgerrechtlerin Marianne Birthler war noch in den ideologieträchtigen Fusionsdebatten zerrieben worden. Deren direkte Nachfolgerin Krista Sager hatte sich am Ende in den Grundsatzstreitigkeiten mit Trittin aufgebraucht. Röstel überlebt ihn.

Der Erfolg bringt es mit sich, daß Trittins Platz eine Frau einnehmen wird. Röstel bleibt so das Schicksal der Fraktionsvorsitzenden Kerstin Müller erspart, die mit Rezzo Schlauch einen Mann zur Seite bekam, der umstandslos den Raum seines Vorgängers ausfüllt. Die designierte Co-Sprecherin Antje Radcke, ist sich Röstel hingegen sicher, werde sich erst mal einarbeiten müssen. Wer glaubt, daß Röstel jetzt endlich machen werde, wozu ihr Trittin keine Gelegenheit ließ, sieht sich getäuscht. Zu ihrem Erfolg gehört auch, nicht mehr Macht zu beanspruchen, als sie ausfüllen kann. Deshalb zeigt sie kaum Neigung, der anstehenden Programmdebatte ihren Stempel aufzudrücken.

Während Radcke ihre Kandidatur bei den Parteifürsten absichert, taucht Röstel im heimischen Sachsen auf, um sich auf ihren nächsten Wahlkampf vorzubereiten. Donnerstag, 3. Dezember, 12.30 Uhr: Treffen mit zwei Verkehrsexperten der TU Dresden beim Chinesen in der Dresdner Innenstadt. Bei Frühlingsrolle und Ente knusprig überbacken werden Themen auf ihre Tauglichkeit für die Landtagswahl im kommenden September abgeklopft. Es gehe, kommt Röstel noch vor der Vorspeise zur Sache, „weniger um Verbotsstrategien, sondern darum, Möglichkeiten aufzuzeigen“, sie wolle „keine Langfriststrategie“, die Sache müsse „umsetzbar sein“ und „den Bürgern plausibel werden“. Den Körper, wie häufig, fordernd nach vorne gebeugt, den Kopf auf die gefalteten Hände gestützt, ab und an in einer dicken Kladde Notizen machend, wartet Röstel auf die passende Antwort. Als die Ente kommt, ist sie gefunden: „landesweites Geschwindigkeitsmanagement“, das ist zwar vage, klingt aber innovativ, mufft nicht nach Vorschrift, widerspricht nicht dem Parteiprogramm. Ausarbeitung erfolgt später.

Um 18 Uhr öffentliche Veranstaltung der Grünen im Jugendfreizeitheim „Ossi“ in der Bautzener Straße in Hoyerswerda. Die Assoziationen, die die drei Worte freisetzen, bewahrheiten sich vor Ort. Grüne Diaspora. Vierzehn Leute verteilen sich im Saal, von denen sich im Laufe des Abends die Hälfte als Parteigänger oder professionelle Beobachter zu erkennen geben. Hier sind keine Meriten zu holen, trotzdem harrt Röstel zwei Stunden aus, fühlt sich sogleich „als Ossi im ,Ossi‘ ganz zu Hause“. Sie sei Sächsin und in Flöha „strukturkonservativ verwurzelt“.

Mancher Politiker fragt sich nach so einem Abend, warum er das alles eigentlich macht. Aber Röstel läßt sich anscheinend nur zu Hause hängen. Wenn man sie fragt, warum sie sich denn in der Landespolitik engagiere, so erfährt man etwas von „der ganz großen Verantwortung als Sächsin, diesen Wahlkampf zu gestalten“. Der werde wesentlich von der Bonner Politik beeinflußt. Eine prominente Politikerin könne die Chancen der Grünen, in den Landtag einzuziehen, erhöhen. Es läuft folglich auf sie hinaus. Aber natürlich, schränkt sie dann ein, sei die Entscheidung über eine Kandidatur Sache des Landesverbandes. Wird die Trennung von Amt und Mandat beibehalten, muß auch sie sich im Laufe der nächsten zehn Monate entscheiden. Sie ist, wie immer, vorsichtig und nennt keine Präferenz. Doch wird sie wohl im Zweifelsfall in die Landespolitik wechseln. Schon weil sie da weniger vorsichtig sein muß.