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Die Stadt tönt mit Infrasounds

■ Das Projekt der diesjährigen Woche der bildenden Kunst dringt ab morgen in die Ohren

„Regionalexpress Alptraum, ab 11 Uhr 12, an Zugspitze: 12 Uhr 23, an Zugende: 14 Uhr 56“. Mit dieser und mit ähnlichen Lautsprecheransagen werden Reisende im Hamburger Hauptbahnhof für die nächsten vier Wochen verwirrt. Der Grund: Im Rahmen der diesjährigen Woche der bildenden Kunst unterwandern Künstler die gewohnten Geräusche der Metropole. Ob in der Abfahrtshalle des ZOB oder in der Intimität des Golden Pudel Klubs, im großzügigen, historischen Ambiente des Michel oder im viel zu engen Fahrstuhl der Zentralbücherei: Es tönt an siebzehn verschiedenen Orten.

Verantwortlich für das Projekt ist der Pariser Kurator Jerome Sans, der zusammen mit Karin Günther die internationalen Künstler für das Projekt Infrasound zusammenbrachte. Im gleichnamigen Begleitbuch zu diesem Projekt legt Jerome Sans seine grundsätzlichen Überlegungen dar. Und die lesen sich zusammengefaßt etwa wie folgt:

Die Stadt ist ein Universum aus anonymen Tönen. Diese überlagern sich zu einem unbeachteten Klangteppich, ähnlich dem „weißen Rauschen“, aus dem ab und an ein Ton identifizierbar wird, bevor er wieder in der Masse verschwindet. Alle diese Geräusche sind „Infrasounds“, die Einfluß auf unser Verhalten nehmen und uns sogar abhängig machen.

Eine Kartographie der Töne einer Stadt würde Zeugnis ablegen über das Leben unserer Zeit und ebensoviel über Eigenart und Identität einer Metropole aussagen wie deren Bilder. Bisher nehmen wir diese Klänge nicht ernst, sondern arrangieren uns mit den akustischen Dauersendesysstemen, die in allen Bereichen des öffentlichen Lebens installiert sind. Die wenigen noch verbleibenden Zwischenräume werden zusätzlich mit eigenen, individualisierten Lautpegelsystemen bevölkert: Handys und sprechende Uhren, Akustikmelder und Autoalarmanlagen, Walkmänner und Ghettoblaster. Der Mensch markiert sein Terrain akustisch.

Diese akustische Stadt kennt keine Ruhe und keine festen Formen mehr. Das in ihr lebende Individuum schließt sich von früh bis spät an Musik an wie an eine Nabelschnur. Es scheint, als empfinde der heutige Mensch das Bedürfnis, beständig anderswo zu sein, sich einer akustisch rhythmisierten Umwelt auszusetzen und eine Entmaterialisierung der Welt vorzunehmen, die stimuliert, euphorisch stimmt oder berauscht. Was zählt, ist die Identifizierung mit der Musik und das Vergessen der Wirklichkeit. Es geht um eines der größten Phänomene unserer Zeit: der Gleichgültigkeit gegenüber der realen Welt.

Die Ausstellung Infrasound stellt sich diesem Thema. Sie bietet in Form eines Parcours spezielle Interventionen an, entworfen meist von Künstlern, die sonst keine Spezialisten für das akustische Fach sind. Sie benutzen hier bewußt bereits existierende akustische Einrichtungen. Mit dieser diskreten Erscheinung geht es den Künstlern um ein unsichtbares Eindringen in die städtische Umwelt und um eine Strategie des Verschwindens. Der Besucher wird eingeladen zum Spaziergang, zum Umherstreunen und zur Entdeckung akustischer und urbaner Räume, auf daß sich langsam und je nach Lust und Laune eine andere Geschichte der Stadt ergibt. Diese Ausstellung sucht der Stadt nicht weitere Töne hinzuzufügen, sondern den städtischen Raum hörbar zu machen und damit eine „akustische Ökologie“ zu provozieren.

Damit Sie nicht zu viele der oft so unscheinbaren Interventionen von Infrasound übersehen oder besser: überhören, werden wir auf dieser Seite in den nächsten Wochen in lockerer Folge einige davon vorstellen.

Jerome Sans / Hajo Schiff

Eröffnung morgen, Donnerstag: 18 Uhr, Rundgang ab Finanzbehörde, Gänsemarkt 36. Ab 21 Uhr Party im Camelot Club, Hamburger Berg 13, mit einer Performance von Matta Wagnest & DJ DSL.„Infrasound – Ein Stadtprojekt“ ist erschienen im Kellner Verlag, 120 S., ca. 20 Mark.

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