Sterben müßt ihr alle

■ „Belagerungszustand“ im theatron

Albert Camus' Der Belagerungszustand erzählt eine Allegorie: Eine fremde Diktatur in Gestalt der Pest übernimmt die Amtsgeschäfte in der Stadt und degradiert die Bürger zu Objekten einer totalitären Bürokratie. Diego, ein Student, wagt die Revolte und steht für die Macht des einzelnen, der den Versuchungen der Diktatur widersteht. Dafür muß er sterben, die Stadt aber wird gerettet.

Das 1948 entstandene und bisweilen mit Brechts epischem Theater verglichene Stück lädt zur moralisierenden Zurschaustellung ein. Unter der Regie Jörg Vorhabens vermeidet das theater Lazzaroni jedoch die Überreizung der Kontraste zwischen dem revoltierenden Moralisten Diego (Matthias Winkler) und dem weinseligen, den Untergang besingenden Nihilisten Nada (Simon Schlingpässer). Es gelingt der Inszenierung weitgehend, das Atmosphärische der belagerten Stadt zu vermitteln und dabei Platz zu schaffen für Schattierungen.

Die Herrschaft der personifizierten, menschenverachtenden Pest (Arne Ghosh) scheitert am rudimentären Charakter der laszivvermittelnden Sekretärin (Kathrin Poplutz) und des untergangslüsternen Bürokraten Nada. Was von der Pest bleibt, ist die Herausforderung des menschlichen Bedürfnisses nach Freiheit. Wird die Zufälligkeit des Todes ausgeschaltet, gewinnt die gesellschaftliche Kontrolle ungeahnte Macht. „Sterben müßt ihr alle – wir sagen euch, wann“, heißt es auf einem Transparent, das die Lazzaroni der Vorlage Camus' zugefügt haben. In unaufdringlicher Weise wird der Grundkonflikt „freies vs. verwaltetes Leben“ auf die Bühne gebracht – und bis zum Ende nicht entschieden.

Daß die Pest geht, ist vorläufig, und das Staatsbegräbnis für Diego spiegelt den Hohn, auf dessen Grundlage die alte Herrschaft sich restituiert. Ein vager Triumph also, den Camus mit pathetischem Optimismus verbunden hatte. Das Theater Lazzaroni verweigert das Schlußwort, in dem das Meer als Heimat der Revolte und Bündnis aller Menschen stilisiert wird. Statt dessen besingt Nada die ewige Wiederkehr des Gleichen – betrunken und doch unendlicher nüchterner als bei Camus.

Folke Havekost

Noch Donnerstag bis Sonnabend, jeweils 20.07 Uhr, theatron