Einmal im Leben

■ Jürgen Flimms Inszenierung von Schnitzlers „Das weite Land“ feiert am Thalia Premiere / Der Regisseur und Intendant im Gespräch

taz: Heute abend hat am Thalia „Das weite Land“ in Ihrer Inszenierung Premiere. War dieser Schnitzler ein Wunschstück für Sie?

Jürgen Flimm: Jeder Regisseur hat eine Liste von Wunschstücken, und die sind sich ziemlich ähnlich. Auf jeder dieser Listen steht irgendwann auch Weites Land – so wie jeder Dirigent mal die Erste von Brahms oder den Giovanni dirigiert haben will, einmal im Leben.

Könnte man sagen, daß Spielzeiten in der Gruppierung der Stücke bestimmte Grundthemen haben?

Nein, das gibt es nicht. Vielleicht kann man das später feststellen. Aber ich kann Ihnen das jetzt nicht sagen. Zurückblickend auf die Zeit in Köln, wo ich ja sechs Jahre Theaterdirektor war, könnte ich jetzt wohl sagen: Von Käthchen von Heilbronn bis Civil Wars von Wilson ließe sich sicher eine ganz interessante Entwicklung feststellen. Aber wenn man in der Arbeit steckt, hat man den Blick von außen nicht. Unsere Spielpläne entstehen ja viel pragmatischer, als sich das mancher denkt oder wünscht. Sie entstehen sehr stark aus Ensembleüberlegungen heraus und den Vorlieben der Regisseure. Das ist ein schwieriges, wenn nicht das schlimmste Geschäft im Theater: den Spielplan zu machen. Und man hat immer die Frage im Hinterkopf: Was ist es, was wir im Moment erzählen wollen? Und keiner weiß, ob die Leute es sehen wollen.

Von außen stellt man sich das sehr viel wunschgesteuerter vor.

Wünsche hat man schon, doch die brechen sich oft an der Realität.

Selbst bei Ihnen, mit Ihrer Doppelrolle im Haus?

Bei mir? Ich bin ja der schlechtbehandeltste Mensch in dem Theater, weil der Intendant mir immer sagt: Wenn du das Beispiel nicht gibst, Jürgen, wer soll's dann geben? Das ist schwer. Wenn ich außerhalb Opern inszeniere, fühle ich mich besser.

Sind Sie lieber Intendant oder lieber Regisseur?

Wenn sie den Regisseur fragen, dann ist der lieber Intendant. Fragen sie den Intendanten, ist der lieber Regisseur. Das kann man nicht voneinander lösen. Mein Beruf ist Regisseur. Intendant bin ich auf Zeit. Als Regisseur habe ich nichts anderes gelernt. Ich kann nicht viel anderes. Vielleicht noch unterrichten.

Sie tun Ihre Arbeit gern?

Es ist heute nicht modern, so etwas zu sagen, aber wir sind doch immer noch in einer guten Situation. Daß wir miteinander so arbeiten können! Eben war der Peter Sellars bei mir und hat entsetzliche Sachen erzählt darüber, wie es im Moment in Amerika zugeht. Das ist unvorstellbar. Ich habe auch viele Freunde in England und Frankreich, in Italien. Wenn man sich deren Situation ansieht, kann man nur sagen: Die finanzielle Situation wird sicher noch viel härter, als wir uns das vorstellen können. Aber wir haben, wie Brecht sagt, immer noch „unser Auskommen“. Es ist immer noch so, daß unsere Arbeit genau die ist, die wir wollen. Das ist eine seltene Situation. Es redet einem auch nicht wirklich jemand rein. In Hamburg jedenfalls nicht. Allerdings müssen wir am Ende des Jahres sehen, daß die Zahlen stimmen – da können wir uns keine Scherze erlauben.

Es gab das Schlagwort von der Theaterkrise per se. Existiert so etwas wirklich?

Wir haben neulich in der Dramaturgie mal in alten Theater heute-Ausgaben von 1982 geblättert. Da gab es eine riesige Überschrift über die Theaterkrise. Damals gab es auch eine kleine Sparwelle, und sofort bricht die Krise aus. Der Vater von Benjamin Henrichs, der Intendant in München war, hat einmal eine sehr witzige Kolumne geschrieben. Er meinte da, daß ihn die Theaterkrise begleitet, seitdem er denken kann. Die ist immer Bestandteil des Jobs. Die Krise ist es, die uns Beine macht. Krise heißt doch eigentlich nur: Ist das, was wir erzählen, auch wirklich vermittelbar an die Zuschauer, daß die es sehen wollen?

Die Krise ist immer die Vermittlungskrise. Wenn man die nicht hätte, wäre die Angelegenheit ja tot. Das hieße nur, daß man ein für allemal eine Lösung gefunden hat, wie man was erzählt. Das ist ja nicht der Fall. Das gleiche gilt auch für Musik: Es gibt ständig sich verändernde Rezeptionsmechanismen. Es wird jeden Tag anders rezipiert. Wenn Sie sich Aufnahmen angucken von vor 25 Jahren, dann wissen Sie, was sich verändert hat, was sich an der Rezeption permanent verändert! Jedes Stück ist zum erstmaligen Sehen geschrieben worden. Das vergißt man immer. Jede Musik wurde zum erstmaligen Hören geschrieben. Schubert hat ja keine Musik geschrieben, damit man die 1995 hört.

Zumindest nicht zum 150. Mal.

Ja, er schrieb für das erste Mal, und auch ein Theaterstück wird für das erste Mal geschrieben. Nach dem ersten Mal verliert es an Naivität, denn dann setzt der Vergleich an. Und mit dem Vergleich setzt massive Interpretation ein. Dieses Problem trifft für alle sogenannten Live-Events zu. Bei einem Bild ist das etwas anderes, das hängt und hängt, da kommt höchstens einmal ein Maler in Mode, und ein anderer verliert im Kurs, weil sich auch dort das Rezeptionsverhalten ändert. Doch Musik und Theater wurde für das einmalige Erlebnis geschrieben und nicht für die Multiplikation von Erlebnissen. Und wir multiplizieren Erlebnisse dauernd.

Hat die Bedeutung von Theater sich verändert?

Ja. Ich weiß noch, wie es in meiner ersten Hamburger Zeit war, von Anfang der 70er, bis ich 1978 nach Köln gezogen bin. Wenn man da aus der U-Bahn kam, sah man eigentlich fast nur Produktwerbung. Irgendwann hat sich das verändert. Steigen Sie heute mal am Jungfernstieg aus: Sie sehen nur Eventwerbung, nur Veranstaltungen, eine neben der anderen. Es gibt die Explosion der sich vergrößernden Theaterszene, doch das ist nur ein Aspekt. Es gibt viele Veranstaltungen. Die Konzertsituation hat sich enorm vergrößert. Daran sehen sie, daß das Theater, das noch in den 50er oder 60er Jahren ein ganz wichtiger Faktor war, an Bedeutung verloren hat. Wie die Häuser in den Städten standen, so zentral waren sie auch in ihrer Bedeutung. Das sind architektonische Zeichen. Doch was die Architektur da ausdrückt, ist in der Soziologie gar nicht mehr vorhanden. Und das bringt natürlich viele Probleme mit sich. Es heißt keinesfalls, daß die Häuser deshalb leer sind. Das ist nicht das Problem. Doch die Aufmerksamkeit auf das Medium ist geringer geworden. Und das kann im nächsten Jahrzehnt ein Problem werden.

Fragen: Thomas Plaichinger