Ein Geschichtenerzähler vom Rande

Sein Buch „Erklärt Pereira“ wurde mit Marcello Mastroianni verfilmt. Der italienische Schriftsteller Antonio Tabucchi beschreibt unspektakuläre Begebenheiten. Er ist deshalb kein Bestsellerproduzent. Aber er hat immer mehr Freunde, gerade nach Lesungen wie kürzlich in Berlin. Geschätzt wird an seinen Erzählungen eine gewisse Verträumtheit. Beobachtet hat ihn  ■ Antje Bauer

Der Mann verschwindet fast hinter dem großen Podium. Ein schmächtiger Körper deutet sich an, darüber ein kleiner Kopf mit schütterem Haar, nur der Hut fehlt zur völligen Übereinstimmung mit seinem Lieblingsdichter, dem verstorbenen Portugiesen Fernando Pessoa. In den letzten Jahren hat der italienische Schriftsteller Antonio Tabucchi auch in Deutschland immer mehr Leser gefunden; selbst ältere Werke von ihm sind, angesichts des Erfolgs seiner Bücher, neuerdings übersetzt worden.

Und als die Kulturzeitschrift Lettre International vor Monaten sechs Schriftsteller aufgefordert hatte, eine Reise zu machen und darüber eine Reportage zu schreiben, war auch Tabucchi mit von der Partie. Im September, kurz nach Erscheinen jenes Reisereportageheftes, hatte die Zeitschrift die Autoren schließlich nach Berlin ins Haus der Kulturen der Welt geladen, damit sie über die Umstände ihrer Geschichte erzählten, so daß das Publikum einmal nicht allein das fertige Werk vorgesetzt bekomme, sondern gewissermaßen im nachhinein den Reisevorbereitungen zusehen könne.

Tabucchis Beitrag hatte im Heft jedoch gefehlt. Die Reportage „Die Roma und die Renaissance“ sei ungeschrieben geblieben, hieß es im Editorial. So war er für diese Lesung auch eigentlich gar nicht vorgesehen. Erst in letzter Minute ist er eingesprungen, als Ersatz für einen anderen Schriftsteller. Und nun sitzt er dort, ein wenig so, als müsse er für seine Anwesenheit um Entschuldigung bitten.

Aber geschrieben hat er doch. Allerdings über etwas anderes, als er vorgehabt habe, sagt der kleine Mann ins Publikum. Er sei auf einem Dorf aufgewachsen, und als Kind habe er Astronom werden wollen, denn sein Opa habe ihm immer die Sterne gezeigt. Die Dinge des Lebens erst hätten dazu geführt, daß er Schriftsteller geworden sei, nicht Astronom.

„Les choses de la vie“, heißt das bei ihm, denn er spricht hier nicht Italienisch, sondern Französisch, leicht, flüssig, mit gelegentlichen Fehlern, so, als sei er in dieser Sprache ein geladener, aber nicht völlig anwesender Gast, wie auch hier auf dem Podium. Auf die Einladung von Lettre hin habe er sich überlegt, wenn er schon selber nicht in die Sterne schauen könne, so wolle er doch wenigstens denen zusehen, die in die Sterne schauen. Denn Schriftsteller zu sein bedeute doch, Leuten zuzusehen. Später wird er das ausweiten: Schriftsteller zu sein bedeute, in ihre Haut zu schlüpfen: ein Zigeuner zu sein, ein Kind, eine verbitterte bürgerliche Witwe.

Eine Reportage aus den Sternwarten der Welt habe er schreiben wollen, sagt er, und man sieht ihn förmlich auf einem Schemelchen sitzend, kaum wahrnehmbar, den Astronomen zuschauend, wie sie in den Himmel schauen. Doch dann wurde nichts daraus. Er hatte eine Nachricht von seiner alten Bekannten Liuba erhalten, die er in den sechziger Jahren in Lissabon kennenlernte, als er dort portugiesische Philologie studierte und sie Soziologie. Sie arbeite gerade an einer Studie über die Lage der Roma in Spanien, Portugal und Italien; nur dieser dritte Teil fehle ihr noch. Ob er ihr helfen könne, Zugang zu den Roma in Florenz zu finden. Ausgerechnet in dem bürgerlichen, reichen Florenz.

Tabucchi beschloß, Liubas Führer bei den Roma in Florenz zu sein, der Stadt, in der er er seit langem lebt und die ein wenig die seine geworden ist. Er wollte ihr bei ihrer Reportage zusehen und danach eine Reportage über die Reportage schreiben, so eine Verschachtelung, wie der sie liebt, der ein Buch geschrieben hat mit dem Titel „Träume von Träumen“.

Die Einladung von Lettre, eine Reise in die Ferne zu machen, habe er somit abgelehnt, habe statt dessen die Ferne in der Nähe gesucht. Tabucchi spricht eine Weile, dann, als ob er sich ausruhen, den Faden wiederfinden müsse, atmet er vernehmlich durch die Nase, räuspert sich, bleibt einen Moment still. Er spricht von der Kälte in der Welt, davon, daß die Zeitungen schreiben, die Atmosphäre heize sich immer mehr auf, daß es aber in seiner Wahrnehmung immer kälter werde, durch eine innere Kälte. Besonders gelte dies für die jugoslawischen Roma in Italien, die in mehrfacher Hinsicht diskriminiert seien: als Flüchtlinge und als Zigeuner. Rührend, fast ein wenig naiv wirkt das, unerwartet bei einem, der in seinen Büchern Gefühle sparsam dosiert, hinter einer fast angelsächsischen Kargheit verbirgt.

Tabucchis Geschichten sind unauffällige Geschichten, in denen die Menschen mehr durch das Leben getragen werden, als daß sie selber gingen, immer leicht erstaunt über das, was ihnen zustößt. Leise Melodien, ohne Orchesterbegleitung.

Die Dinge seines Lebens wollen es, daß das Manuskript seiner Reportage in Berlin nicht rechtzeitig vorlag, daß Tabucchi es in seinem Koffer mitgenommen hat und daß dieser Koffer in Düsseldorf verlorengegangen und an diesem Abend nicht vorhanden ist. So daß da also ein Tabucchi sitzt, der dort nicht vorgesehen war, und über ein Manuskript spricht, das an diesem Abend außer ihm niemand kennt.

Eine Geschichte wie aus dem Leben, fast wie die, die Tabucchi so gerne schreibt. Denn die längste Zeit hat er keine großen Werke geschrieben, sondern kleine Episoden, Ereignisse, Situationen, in denen augenscheinliche und mögliche Realität sich überlagern und auch für den Leser nicht zu trennen sind.

Auch physisch ist der ohnehin kleine Tabucchi auf dem Podium immer weniger präsent: Während des Sprechens verlangsamt sich seine Rede nach und nach, bis er fast mitsamt seiner Stimme verschwunden ist; er sei müde, erklärt der Autor. Er hat in den sechziger Jahren in Portugal studiert, und das Land sollte ihn nie wieder loslassen, wie auch der bekannteste portugiesische zeitgenössische Dichter, Fernando Pessoa, ihn immer begleiten wird.

Tabucchis Annäherung an Portugal geht so weit, daß er eines seiner Bücher, „Lissabonner Requiem“, auf Portugiesisch geschrieben hat und es dann von einem Übersetzer in des Autors Muttersprache Italienisch übertragen wurde.

An Pessoa kommt niemand vorbei, der sich mit portugiesischer Literatur beschäftigt. Doch bei Tabucchis Beschäftigung mit Pessoa geht es um mehr – hier handelt es sich fraglos um einen Fall von Mimesis, von Nachahmung bis beinahe zur Übereinstimmung mit dem Original.

Nicht nur, daß er sich in den Dichter hineinversetzt in seinem Buch „Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa“, nicht nur, daß er dem toten Dichter zum Verwechseln ähnlich sieht mit seinem etwas leidenden Blick, der leichten inneren Abwesenheit und daß er hier, erschöpft auf dem Podium sitzend, an Fotos von Pessoa erinnert, auf denen dieser, mit Hut, langem Mantel und Stock angetan, sich auf einer Straße Lissabons gleichsam vorwärtstastet.

Beide treibt unablässig die Grundfrage nach dem Sinn des Lebens um, beide stellen sich Fragen nach dem Gehalt der Realität, beide spielen mit dieser Realität, um ihr Gewicht zu prüfen: Pessoa, indem er in seinen Werken die Gestalt immer neuer Charaktere annimmt, Tabucchi, indem er mit Wahrnehmungen spielt, mit Verwicklungen, mit „kleinen Mißverständnissen ohne Bedeutung“.

Viele Schriftsteller versuchen in ihren frühen Werken, gesellschaftliches Engagement unterzubringen, und ziehen sich mit der Zeit immer mehr auf das rein Menschliche, Persönliche zurück. Bei Tabucchi verläuft die Bewegung umgekehrt: Während seine ersten Bücher eher wie abstrakte Gedankenspiele erscheinen, wirken seine letzten Bücher – angefangen bei „Requiem“ –, als habe er eine Lupe auf seine Personen gehalten.

Sie sind mit einem Mal von nahem zu sehen, werden menschlicher, entwickeln sich, und erstaunlicherweise neigen sie zum Aufbruch. Sie verlassen ihr Schneckenhaus, in dem sie sich verkrochen hatten, zeigen persönliches Engagement. Als ob sie angekommen wären im Leben, noch immer etwas verschüchtert, aber schließlich doch mit offenen Augen.

Das beste dieser Werke der neuen Phase ist „Erklärt Pereira“. Ein alternder Kulturredakteur wird in der Zeit der portugiesischen Salazar-Diktatur aus seinem verstaubten, grauen und traurigen Leben jählings herausgezogen, nicht ganz freiwillig und voller Zweifel; er verliebt sich und entwickelt langsam eine Widerständigkeit gegen das System. „Erklärt Pereira“ verdankt seinen Titel der Tatsache, daß das Buch als Bericht geschrieben ist, von einem, der wiedergibt, was der Kulturredakteur Pereira ihm erzählt hat. Wer aber der Erzähler ist, bleibt ungewiß.

Am Ende des Romans berichtet der Redakteur über einen politischen Mord und überlistet den mißtrauischen Drucker seiner Zeitung, damit der den Text druckt. Dann verläßt der Redakteur das Land. Das Buch hatte in Italien großen Erfolg und rief eine kuriose Reaktion hervor: In seinem Buch „La democrazia magica“ bezichtigte Franco Cordelli Tabucchi, Pereira habe „im Namen der guten Sache“ Verrat an seinem Freund, dem Drucker, begangen und diesen in einer üblen Situation zurückgelassen. Pereira sei so gemein wie die ganze Linke.

Tabucchi seinerseits antwortete im Corriere della Sera auf den Angriff: Tatsächlich habe der Drucker Franco Cordelli geheißen, sei nach dem schnöden Abgang Pereiras in den Untergrund gegangen und habe dort viele Heldentaten begangen, um nach dem Sturz der Diktatur ein Buch mit dem portugiesischen Titel „A democrazia mágica“ herauszugeben... Geschichten über Geschichten.

Diese Bücher der letzten Jahre sind keine Essays mehr, keine Kurzgeschichtchen, keine Spiele mit möglicher und tatsächlicher Realität mehr, es sind eher Reportagen, in denen der Leser an verschiedene Schauplätze geführt wird. Er sei kein engagierter Schriftsteller, sagt Tabucchi in Berlin. Er ist nur eben einer, der zusieht, und vielleicht nicht mehr nur den Sternen.

Antje Bauer, 44, ist Redakteurin der deutschen Ausgabe von Le Monde diplomatique. Von 1988 bis 1993 war sie taz-Korrespondentin in Spanien