Die vergessene Epidemie

Über zwanzig Millionen Menschen wurden 1918 ein Opfer der Spanischen Grippe. Selbst die Pest im Mittelalter tötete nicht so viele Menschen. Heute ist das Massensterben fast vergessen. Doch jederzeit könnte die Grippe uns wieder heimsuchen. Die Gesundheitspolitiker sind vorbereitet: Ein Alarmsystem der Weltgesundheitsorganisation WHO meldet jede Grippeinfektion, Katastrophenpläne sind überall ausgearbeitet. Ein Report  ■ von Irene
Meichsner

Wenn es soweit ist, wird uns der amerikanische Präsident mit sorgenvoller Miene über den Ernst der Lage in Kenntnis setzen. Der Mann, der den Atomkoffer stets mit sich trägt, ist auch dafür zuständig, die Welt für grippekrank zu erklären. Tausende werden mit den typischen Symptomen einer echten Influenza darniederliegen: heftige Kopf- und Gliederschmerzen, schwere Atemnot, hohes Fieber, Schüttelfrost.

Arztpraxen und Krankenhäuser werden den Ansturm von Patienten kaum bewältigen können. Schon seit geraumer Zeit arbeiten nationale und internationale Gremien hinter verschlossenen Türen an Katastrophenplänen. Von wann an sollen Schulen und öffentliche Gebäude geschlossen, wie Handel und Verkehr geregelt werden? Welche Menschen würden bevorzugt geimpft, wenn ein Grippevirus noch einmal eine so furchtbare Wucht entfalten würde wie der Erreger, der vor achtzig Jahren allein in den USA fast ein Viertel der Bevölkerung krank machte?

Aus der kollektiven Erinnerung ist die sogenannte Spanische Grippe von 1918 erstaunlicherweise fast getilgt. Dabei töteten sogar Pestepidemien des Mittelalters nicht so viele Menschen in so kurzer Zeit. Weit über zwanzig, womöglich sogar bis zu fünfzig Millionen Menschen starben an dieser schwersten Grippepandemie aller Zeiten – mindestens doppelt so viele, wie dem Ersten Weltkrieg zum Opfer fielen.

Eine Influenza ist keine Erkältung, kein grippaler Infekt und kein harmloses Fieber: In vielen Städten brach damals die Versorgung zusammen, akuter Mangel an Särgen herrschte in manchen. Vier Monate dauerte es, bis das Virus den Globus heimgesucht hatte. Ein solcher Erreger würde heute dank moderner Verkehrsverbindungen dafür nur noch Tage brauchen.

Mit keinen verfügbaren Impfstoffen könnten Ärzte ein derartiges „Killervirus“ bändigen: Fachleute rechnen schlimmstenfalls mit weltweit sechzig oder sogar hundert Millionen Toten, wenn sich eine normale Wintergrippewelle noch einmal zu einer Pandemie von der Gewalt der Spanischen Grippe hochschaukeln würde.

Statistisch stehen die Chancen dafür nicht schlecht. Denn alle zwanzig bis dreißig Jahre, mitunter aber auch in kürzeren Abständen werden aus normalen Grippewellen weltweite Grippepandemien. Die beiden letzten waren 1957 die Asiatische und 1968 die Hongkong-Grippe.

Die nächste Influenzapandemie ist also überfällig. Mit wachsender Nervosität prüft die Weltgesundheitsorganisation WHO die Daten aus 110 nationalen Influenza-Zentren, die einmal pro Woche melden müssen, welche Virustypen zwischen Hongkong und Costa Rica, Alaska und Australien aufgetaucht sind. Seit Ende Oktober sind die nationalen und internationalen Influenzameldesysteme, an denen sich in Deutschland rund tausend Ärzte beteiligen, alarmbereit.

Derzeit bewegen sich die Erkrankungen noch auf dem zu dieser Jahreszeit üblichen, moderaten Niveau. Auch sind die bislang grassierenden Grippeviren – darunter eine in Europa zum letzten Jahreswechsel erstmals isolierte Variante des Sydney-Typs, die Ende Februar eine kleine Epidemie in Baden-Württemberg und später eine Krankheitswelle unter Alaskatouristen auslöste – in dem Impfstoff enthalten, auf den sich WHO, Grippeforscher und Pharmafirmen bereits im Frühjahr einigten.

Doch vor einem Jahr schien sogar der furchtbarste Alptraum wahr zu werden. In Hongkong war ein Influenzavirus direkt von Enten auf Menschen übergesprungen, was bis dahin für unmöglich gehalten wurde. Bei achtzehn Patienten wurde das Vogelvirus nachgewiesen, sechs von ihnen starben. Die Regierung der ehemaligen britischen Kronkolonie reagierte auf Drängen der WHO mit einer Massenschlachtung von Geflügel. Ob damit eine Pandemie verhindert wurde, deren Ausmaße das Drama von 1918 noch hätte übertreffen können, ist offen. Aber der Schrecken sitzt tief. Denn klar ist: Das Influenzavirus bleibt gefährlich, weil es sich verwandeln kann wie ein Chamäleon.

Wer einmal Masern hatte, bleibt dagegen sein Leben lang gefeit, weil sich unser Immunsystem das Aussehen des Masernvirus merkt. Aber ein Grippevirus vermag seine äußere Erscheinung so schnell und gründlich zu ändern, daß es die Abwehrkräfte immer wieder täuscht. Vor allem zwei Stoffe auf der Virushülle, das Hämagglutinin (H) und die Neuraminidase (N), sind dafür verantwortlich.

In regelmäßigen Abständen ersetzen Grippeviren diese Oberflächenproteine sogar durch ganz neue Formen, denen wir mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind, weil unser Immunsystem ihnen noch nie begegnet ist. Gerade in Asien leben Menschen und Tiere häufig so eng zusammen, daß Gene unterschiedlicher Virenstämme ohne größere Schwierigkeiten ausgetauscht werden können.

Vögel erkranken selber zwar nicht an Grippe. Sie bilden aber das mit Abstand artenreichste Virenreservoir, darunter Varianten, für die niemand je einen Antikörper hergestellt hat. Diese Viren können Schweine befallen und in ihnen mit menschlichen Grippeviren zu neuartigen Erregern verschmelzen: Die Hongkong- und die Asiatische Grippe gingen vermutlich auf diesen Mechanismus zurück.

Denkbar ist aber auch, daß Vogelviren zunächst Schweine infizieren und sich erst zu einer stabilen Schweineinfluenzalinie entwickeln, bevor sie ihren Wirt wechseln und auf den Menschen überspringen. Genau so könnte es sich 1918 abgespielt haben, fürchten Fachleute, die fieberhaft nach den Gründen suchen, die für die Spanische Grippe verantwortlich waren.

Merkwürdigerweise tötete diese verheerendste Grippepandemie aller Zeiten – im Unterschied zu jeder normalen Influenza – weniger die älteren und gebrechlichen, sondern bevorzugt die vermeintlich „starken“ Menschen im Alter von zwanzig bis vierzig Jahren. Viele starben binnen weniger Tage an Lungenentzündungen, bei denen sich das Lungengewebe regelrecht aufzulösen schien. Was war es, das den winzigen, kugelförmig-stachligen Virusknäueln, von denen hunderttausend aneinandergereiht gerade mal einen Zentimeter ergäben, solche Gewalt verlieh?

Lange Zeit glaubte man, die Opfer hätten das Geheimnis der Spanischen Grippe mit ins Grab genommen. Als es 1933 erstmals gelang, einen menschlichen Influenzaerreger zu isolieren, schienen sämtliche Spuren längst getilgt. Doch seit kurzem verfügt das Pathologische Institut der US-Streitkräfte in Washington tatsächlich über mehrere Bruchstücke jenes Erregers, der die Spanische Grippe ausgelöst hat. Die Geschichte ihrer Entdeckung kommt einem wahren Wissenschaftskrimi gleich, dessen Schlußkapitel indes noch nicht geschrieben ist.

Erst vor wenigen Wochen reisten Forscher unter Leitung der Kanadierin Kirsty Duncan auf die norwegische Insel Spitzbergen. Sie hatten gehofft, den Erreger aus den sterblichen Überresten von sieben Bergleuten isolieren zu können, die 1918 auf einer Schiffsüberfahrt der Spanischen Grippe erlagen und auf dem Friedhof von Longyearbyen begraben wurden. Aber die Leichen waren verwest und nicht, wie erhofft, im Dauerfrost erhalten geblieben. Die Aktion machte weltweit Schlagzeilen.

Johan Hultin, ein aus Schweden stammender US-Pathologe, hatte vor fast fünfzig Jahren schon einmal versucht, das Virus aus Leichnamen zu bergen, die im ewigen Frost auf natürliche Weise tiefgekühlt wurden. Ein amerikanischer Virologe brachte ihn 1950 auf die Idee. Hultin, damals Student der Molekularbiologie an der Universität von Iowa, war gerade erst von einer Alaskareise zurückgekehrt – und er zögerte nicht lange.

Er nahm Kontakt zu evangelischen Missionaren auf, die er auf seiner Reise kennengelernt hatte. Sie gewährten ihm Einblick in alte Kirchenbücher, in denen er nach Hinweisen auf mögliche Grippeopfer unter Eskimos suchte. In Brevig auf der Sewardhalbinsel im Norden von Alaska wurde er fündig: Achtzig Menschen hatten dort im November 1918 gelebt. 72 wurden binnen einer Woche dahingerafft. Und vermutlich war der Erdboden seitdem nicht mehr aufgetaut.

Hultin bekam von den Dorfältesten die Erlaubnis, die Leichen auf dem Friedhof zu exhumieren. Behutsam erwärmte er das Erdreich, bis er nach zwei Metern auf einen fast unversehrten Leichnam stieß – ein hübsch gekleidetes kleines Mädchen mit schönen schwarzen Haaren. Fünf Toten entnahm Hultin schließlich Lungengewebe, doch diesmal war seine Mühe noch vergebens. Es gelang ihm nicht, den Erreger wiederzubeleben.

Hultin konnte nicht wissen, daß er als alter Mann noch einmal nach Brevig reisen würde. Jeffrey Taubenberger, ein Molekularbiologe bei der US- Armee, hatte sich unterdessen angeschickt, eines der größten medizinischen Rätsel unseres Jahrhunderts aufzuklären.

Taubenberger hatte sich lange Zeit mit Virusepidemien unter Delphinen beschäftigt und mit molekularbiologischen Methoden sogar aus extrem verwesten Delphinkörpern noch winzige Viruspartikel isoliert, als er beschloß, dieses Verfahren auch auf die Spanische Grippe anzuwenden. Ihm war eingefallen, daß auch US- Soldaten zu den Opfern gehören mußten.

Roscoe Vaugh hieß einer von ihnen, ein 21jähriger Soldat aus Camp Jackson im US-Staat South Carolina. Am 19. September 1918 klagte er über Schüttelfrost und Atemnot. Tage später war er tot – eines von vielen Opfern, von denen die Welt nie erfahren hätte, wären ihnen nicht Lungenteile entnommen und im Pathologischen Institut der Streitkräfte aufbewahrt worden, das schon seit dem US-Bürgerkrieg Gewebeproben von Soldaten sammelte.

Einige Dutzend dieser bräunlichen, daumennagelgroßen, von Formaldehyd durchtränkten und in Wachs gebetteten Gewebeproben mutmaßlicher Grippeopfer ließ sich Taubenberger kommen. Nach einem Jahr gab Roscoe Vaughs Lungengewebe sein Geheimnis preis: Es enthielt Bruchstücke mehrerer Gene, die eindeutig einem Influenzavirus zuzuordnen waren. Im März 1997 veröffentlichte der Forscher erste Ergebnisse im Fachmagazin Science. Er warnte eindringlich vor der Ähnlichkeit mit Influenzaviren, die auch heute noch unter Schweinen verbreitet sind und auf Menschen jederzeit wieder überspringen könnten.

Wenig später überraschte ihn Johan Hultin mit der Anfrage, ob sich seine Methode auch auf Gewebeproben aus dem Permafrost anwenden ließe. Auf eigene Kosten und eigene Verantwortung reiste der Wissenschaftler im August 1997 noch einmal nach Brevig – ein inzwischen 72jähriger, emeritierter Professor, der mit Schlafsack und Luftmatratze fünf Tage lang auf dem Boden der Dorfschule kampierte und noch einmal die Erlaubnis bekam, im eisigen Boden zu graben.

Vier junge Männer aus dem Ort halfen ihm, die acht Meter lange, zwei Meter breite und mehr als zwei Meter tiefe Grube auszuheben. Sie stießen auf die Leiche einer dreißigjährigen, korpulenten Frau, deren Körperfett die Lungen offenbar gegen Tauwetter isoliert hatte. Hultin taufte sie – wie das prähistorische Vorbild – auf den Namen „Lucy“. Er nahm Proben von beiden Lungenflügeln und schickte sie nach Washington – in einer chemischen Lösung, die eventuell noch lebende Erreger abgetötet hätte, ohne das genetische Material zu zerstören.

Das Ergebnis von Taubenbergers molekularbiologischer Untersuchung war eindeutig. Die Gewebeproben enthielten tatsächlich Fragmente desselben Erregers, dessen Spuren er auch bei Roscoe Vaugh sowie einem weiteren US-Soldaten gefunden hatte: Es mußten somit Teile jenes Virus sein, das für die Spanische Grippe von 1918 verantwortlich war. Damit stand genug Material für den Versuch zur Verfügung, das Erbgut dieses Erregers zu rekonstruieren – die einzige Chance, Aufschluß darüber zu gewinnen, woher dieses Virus wirklich kam und was genau ihm diese tödliche Gewalt verlieh.

Fragmente von fünf verschiedenen Virusgenen hat Jeffrey Taubenberger mittlerweile identifiziert, darunter wesentliche Teile des Hämagglutinin (H)-Gens, mit dem sich das Virus einst an die Oberflächen seiner Wirtszellen heftete. Die restliche Arbeit wird noch Jahre in Anspruch nehmen. Aber auch beim Gen für die Neuraminidase (N) hofft er, bald einen Schritt weiter zu sein. Vielleicht spielt dieses sogar die wichtigere Rolle.

Virologen der Universität von Wisconsin haben unterdessen einen Influenzaerreger untersucht, der etwa zehn Jahre nach der Spanischen Grippe bei Menschen auftauchte. Demnach könnte ein besonderer Typ von N-Proteinen dafür verantwortlich sein, daß sich ungewöhnlich aggressive Grippeviren nicht nur in Zellen der Atemorgane, sondern auch anderer, weit entfernter Körperteile Einlaß verschaffen.

Am auffälligsten bleibt jedoch die Ähnlichkeit der bislang identifizierten Virusteile mit bekannten Influenzaviren von Schweinen. Taubenberger ist inzwischen überzeugt, daß der Erreger der Spanischen Grippe – anders, als es der alte Name vermuten läßt – zunächst unter Schweinen im amerikanischen Mittelwesten zirkulierte, bevor er auf Farmer übersprang. Ausgangspunkt wäre nach diesen jüngsten Erkenntnissen im März 1918 ein Camp der US-Armee im Bundesstaat Kansas gewesen. Erst in den folgenden Monaten, so scheint es, mutierte der Erreger zur „Todesmaschine“, der innerhalb einer Woche die USA erfaßte und im Herbst fast die ganze Welt ergriff, nachdem er mit den US-Truppen auf Schiffen nach Europa gelangt war.

„Nachts Szenen, die sich keiner vorstellen kann, der sie nicht selbst gesehen hat“, schildert der amerikanische Buchautor Alfred W. Crosby den Ausbruch der Grippe auf einem amerikanischen Truppentransporter im Oktober 1918: „Vom Nasenbluten der Patienten hatten sich überall Blutlachen gebildet, und die Helfer konnten sich kaum einen Weg durch die engen Durchgänge zwischen den Pritschen bahnen. Stöhnen und Geschrei, Rufe nach Behandlung trugen zur Verwirrung bei, es war die Hölle los. Am Morgen befahlen Armeeoffiziere, die Mannschaftsräume unter Deck zu säubern und alle Toten und Kranken heraufzuholen. Doch die Truppe verweigerte den Befehl – ein klarer Fall von Meuterei. Keine Drohung konnte diesen Männern mehr Furcht einflößen als die unter Deck wütende Pestilenz.“

Theoretisch könnte es abermals zu solchen Szenen kommen. Der Schriftsteller Stephen Carter geht sogar noch einen Schritt weiter. In seinem Roman „Der neunte Tag der Schöpfung“ erweckt eine fiktive Gentechfirma aus San Diego den Erreger der Spanischen Grippe zu neuem Leben. Biologe Taubenberger kann sich so etwas zwar nicht vorstellen. „Sicherlich möglich“ sei es jedoch, „rekombinante Influenzaviren herzustellen, die Teile oder vollständige Sequenzen des Erregers von 1918 enthalten.“

Vielleicht könne das „unter kontrollierten Laborbedingungen sogar notwendig werden“, um den Erreger besser verstehen und für alle Fälle Impfstoffe herstellen zu können. Möglicherweise könnte ein solches künstliches Virus, sollte es seinem Vorbild allzu sehr ähneln, aber auch zu einer biologischen Waffe mutieren. Mit „hundert Prozent“ beziffert jedenfalls auch Jeffrey Taubenberger die Wahrscheinlichkeit, daß es früher oder später zu einer neuen Influenzapandemie kommt, die der Spanischen Grippe von 1918 nicht vergleichbar sein muß, ihr aber durchaus ähneln kann. Dann wird sich der US-Präsident mit ernster Miene an die Weltöffentlichkeit wenden – sofern er dazu noch in der Lage ist. In einem vertraulichen „Pandemic Planning Document“ von US-Katastrophenplanern wird auch der Fall durchgespielt, daß der Präsident der Vereinigten Staaten selber von einer Grippe dahingerafft wird.

Irene Meichsner, 46, promovierte Philosophin, arbeitet als freie Wissenschaftsautorin in Köln