Seriös, wie wir sind...

Zank am Boulevard: Wie der „Stern“ eine schöne Story über hungernde Kinder fand und Sat.1 darin „Ungereimtheiten“  ■ Von Christoph Schultheis

Am Anfang war der Stern. Beispielsweise. Am 19. März veröffentlicht er eine Story über das Ex-Playmate Susan Scott, das sich – so zeigen es spektakuläre Fotos, so beschreibt es Reporter Teja Fiedler – im haitianischen Port-au-Prince um arme, kranke Kinder kümmert. Mitte Juni dann berichtet Fiedler erneut über „die weiße Mama von Port-au-Prince“ und ihre Schützlinge: „Louis' dünnes Ärmchen hängt kraftlos nach unten. Auch sein rechtes Bein ist verkrüppelt. (...) Doch in seinem Gesicht steht das breiteste Kinderlachen der Welt.“

Arm und krank, reich und schön, schwarz und weiß – eine schöne Geschichte.

Ja, die Welt ist schrecklich in Port-au-Prince, aber in Deutschland ist sie noch in Ordnung: 90.000 Mark haben nach dem ARtikel die Stern-Leser für Susan Scott locker gemacht.

Doch da, eines schönen tages, mitten in der gefühlsduseligen Vorweihnachtszeit meldet sich plötzlich das Sat.1-Magazin „Akte 98“ zu Wort. „Akte“-Reporter Holger Senft, so heißt es in der Sendung vom 3. November, sei in Sachen Susan Scott und Stern „gleich zwei Mal in die Karibik gereist und fand erstaunliche Ungereimtheiten“. Die breitet er in einem 12-minütigen Bericht aus. Der Stern schlägt zurück, gleich zwei Wochen später: Er bezichtigt das Sat.1-Magazin eines „Journalismus, wie er so nicht sein sollte“. Woraufhin „Akte 98“ (O-Ton: „seriös wie wir sind“), ebenfalls mit einer zweiten Scott-Reportage kontert. „Das ist kein Streit unter Journalisten“, sagt „Akte“-Moderator Ulrich Meyer. Das war am 1. Dezember.

Man kann die Geschichte auch anders erzählen. Dann allerdings ist die Welt nicht nur in Port-au-Prince/ Haiti schlecht, sondern auch in Aspen/Colorado, in Hamburg und Berlin. Und viel komplizierter.

Dann nämlich war am Anfang nicht der Stern, sondern das Fernsehen. Und eine in Vergessenheit geratende Blondine, die sich 1983 mal für den Playboy ausgezogen hatte, saß in ihrem Aspener Luxushäuschen, sah fern, und entdeckte dabei ihre karitative Ader und, wenig später, die Slums von Port-au- Prince als Kulisse für ihre Wohltätigkeit. Dabei ist ihre Hilfe in Haiti nicht unumstritten: Zu wenigen Kindern würden ihre Almosen gelten, heißt es bei Hilfsorganisationen.

„Zufällig“ (so der Stern) wurde ein Fotograf auf Scotts pittoreske Hilfsaktion aufmerksam und machte schaurig-schöne Aufnahmen vom Ex-Playmate im Elend. Mit den Abzügen auf dem Schreibtisch machte sich bald darauf der in New York ansässige Stern-Reporter Fiedler an die Arbeit, reiste ins schöne Aspen, führte allerlei Interviews und strickte um die Fotos seine steinerweichende Story. Aber später mußte sich Reporter Fiedler doch noch persönlich in die haitianischen Slums bemühen, um dem Magazin ein zweites Mal mit noch mehr häßlicher Armut und selbstloser Schönheit die Seiten zu füllen.

Doch dann, als wäre das alles nicht schon genug, kam Holger Senft. Das heißt, eigentlich war er schon da, in Port-au-Prince nämlich, weil er dort gerade für das „Akte 98“ einen Bericht drehte, wie er in Haiti seine eigene Beerdigung inszeniert, bzw. wie sich an jeder Straßenecke die erlogene amtliche Bestätigung dafür erstehen läßt.

Falschaussagen für ein paar Dollar. Und während seiner anschließenden Recherchen in Sachen Susan Scott wollten die Einheimischen dem „Akte“-Reporter plötzlich die Stern-Version partout nicht mehr bestätigen. „Sapperlot!“ mochte da wohl die „Akte“- Redaktion gedacht haben.

Insbesondere den betreuenden Redakteur Manfred Hering dürften Senfts windig-suggestive Enthüllungen gefreut haben. Schließlich hatte Hering noch bis 1994 für den TV-Ableger des Stern gearbeitet, bis seine Mitarbeit bei „Stern TV“ kurz nach dem Eklat um den Fernsehfälscher Michael Born ein Ende fand und seine mutmaßliche Mittäterschaft und späteren Rechtfertigungen öffentlich mit allerlei Häme und Spott bedacht worden waren ...

Mit dem Alltag in Haiti hat die ganze Sache an dieser stelle freilich nichts mehr zu tun, nur noch mit dem Alltag in deutschen Redaktionen. „Susan Scott und viele Fragezeichen“ sagte Sat.1-Mann Ulrich Meyer. Wer wollte dem noch widersprechen wollen?

Erkundigt man sich bei den Beteiligten, gibt es eher noch mehr Fragezeichen: Katja Gloger, Auslandschefin beim Stern, findet die Beiträge ihres US- Korrespondenten Fiedler, „sorgfältig recherchiert“, „ordentlich“ und „gut“, auch wenn der für die erste Scott-Geschichte „aus Zeitgründen“ nicht einmal in Haiti war. Selbst Manfred Hering bei Sat.1 sagt, er habe die Stern-Reportagen zunächst „mit großer Freude und Spannung gelesen“. Und Sat.1-Reporter Senft gibt sich gönnerhaft: „Ich bin gerne bereit, einen Kniefall vor dem Stern zu machen, wenn ich bei meinen Recherchen kollektiv belogen worden bin“. Gekränkt über den Stern fügt er hinzu: „Wäre da ein Gespräch entstanden, wäre vielleicht nicht einmal ein Bericht draus geworden.“ Senft habe eben „seine Enttäuschung verfilmt“, faßt ein anderer „Akte“-Redakteur die Sache zusammen.

Ansonsten beteuert jeder die Anständigkeit der eigenen Arbeit, beklagt zweifel- und lückenhafte Recherche des anderen und sucht mit Fragen wie „Gab es in der Leichenhalle von Port-au-Prince eine Klimaanlage oder nicht?“ nach Schwachstellen in der Berichterstattung.

Zudem sind in der Slum- Schlacht längst die Rechtsabteilungen eingeschaltet: Der Stern prüft, ob die Vokabel „Ungereimtheiten“ juristisch gesehen „im Wertungsbereich“ liegt, oder wo sonst sich ein Anlaß finden, die Angelegenheit vor Gericht zu bringen. Und beide Parteien betonen, mit „gerichtlich verwertbarem Material“ gewappnet zu sein.

Dem Leser und Zuschauer nutzt das alles wenig. Man müßte inzwischen wohl schon selbst selbst nach Haiti fahren und sich ein eigenes Bild machen. Dann käme man wieder und hätte wahrscheinlich einiges zu erzählen – und den bereits kursierenden Versionen doch nur eine weitere hinzuzufügen. Der TV-Reporter Marcel Cornelius für den Kulturkanal Arte längst getan. Bereits Anfang Juli zeigte Arte seinen Film „Playmate in der Hölle“.

Doch was nutzt es? Inhaltlich in Übereinstimmung mit den Stern- Reportagen finden sich Auszüge aus dem Arte-Bericht auch in den „Akte“-Beiträgen, immer dann, wenn „Akte“-Kollege Senft keine besseren Bilder hatte auftreiben können.

Die Verwicklungen um die Susan Scott-Berichterstattung sind exemplarisch für die durch und durch irreführende Vermutung, wir lebten in einem Informationszeitalter. Enthielten die Berichte anfangs noch eine gewisse Menge an Information (Frau hilft Kindern), haben vielleicht unpräzise Details und persönliche Interessen die Information am Ende nahezu komplett verdrängt. Statt sich zu verdichten, hat sich die Nachricht im Hin und Her der Anwürfe und Rechtfertigungen vollständig aufgerieben. Und die Wirklichkeit hat einen blinden Fleck mehr.

Stern-Reporter Fiedler ist dennoch erst vor wenigen Tagen erneut aus Port-au-Prince zurückgekehrt. Mit weiteren Bildern, weiteren Informationen, Eindrücken und Beweisen. Über, von und für was eigentlich?