Das Gewicht der Welt

Yasmina Reza hat mit „Hammerklavier“ Geschichten geschrieben, die ohne weiteres als Sonate durchgehen: gut durchkomponiert, rhythmisch und melodiös  ■ Von Barbara von Becker

Ihr (viertes) Theaterstück „Kunst“ war ein Welterfolg. Jahrelang lief es vor ausverkauften Häusern, ob an den Champs-Elyseés mit Stars wie Pierre Arditi und Jean-Louis Trintignant, oder an der Berliner Schaubühne, wo nach der Pemiere im November 1995 Peter Simonischek, Gerd Wameling und Udo Samel das Publikum über zwei Spielzeiten lang als ein sich abgründig zerstreitendes Freundestrio begeisterten.

Yasmina Reza wurde 1957 in Paris geboren. Die jüdischen Vorfahren des Vaters stammten aus Samarkand, bevor sich die Familie über Stationen in Moskau und Berlin in Paris niederließ. Die Mutter, eine ungarische Geigerin, emigrierte von Budapest aus in die französische Hauptstadt. Reza selbst arbeitete einige Jahre als Schauspielerin, bevor gleich ihr 1986 erschienenes erstes Stück „Gespräche nach einer Beerdigung“ mit dem Prix Molière, eine Art französischer Bühnen-Oscar, prämiert wurde.

Nun stellt der Züricher Amman-Verlag erstmals Prosa der Bühnenautorin vor, nachdenkliche, die Fährten der Vergewisserung suchende, sehr persönliche Betrachtungen über das Gewicht der Welt und das Geheimnis der Zeit, den Lauf der Dinge und die Passanten des Lebens. Zum zentralen Thema der tagebuchartig reflexiven Miniaturgeschichten wird dabei immer wieder das Skandalon der Vergänglichkeit. Der sterbende Vater, Freunde, das Älterwerden der eigenen Kinder – ein täglicher Abschied von so nie wiederkehrenden Augenblicken, der einem nun viel bewußter ist als früher.

Die schwarzgelockten Haare im Nacken des zweijährigen Sohnes lassen die Mutter an den älteren Herren denken, der dieser mal sein wird: ein Fremder. Ein verlorenes Schulheft, Gemeinschaftswerk aus Zeichnungen der siebenjährigen Tochter zu Texten der Mutter, stürzt diese in Verzweiflung, das Mädchen bleibt gelassen. „Warum hänge ich so an diesem Buch und sie nicht? Weil ich seinen Wert in der Zeit kenne. Ich kenne die Bedeutungserweiterung des Buches. Das Buch ist Vergangenheit und Zukunft. Alta ist schon nicht mehr dieselbe (...), und sie zeichnet auch nicht mehr mit diesem ungezügelten Charme ... Das Buch ist schon grausam, es ist schon Verlust, schon erzählt es von einer entschwundenen Welt.“

Immerhin ist die Zeit „demokratisch“, denn sie trifft alle. Nicht jedem wird aber ein so liebevolles, würdiges Denkmal zuteil wie dem Vater der Erzählerin, einem Musikliebhaber und Hobbypianisten, in leidenschaftlicher Konkurrenz allerdings zur ebenfalls klavierspielenden Tochter. In leicht hingesetzten, unprätentiösen Dialogen über Krankheit, Vorurteile, Passionen und kleine Lügen entsteht mit dem Galgenhumor im Angesicht des Todes das Porträt einer besonderen Beziehung. Ein Vater, der plötzlich auf der Rue de Rennes in Paris den Minister Raymon Barre unbekannterweise anspricht, um ihm die Tochter als berühmte Autorin anzupreisen, was aber nicht in Peinlichkeit, sondern damit endet, daß beide Herren auf offener Straße lauthals ein Mozart- Quintett intonieren; ein Vater auch, der lebenslang felsenfest davon überzeugt war, daß Juden unter gar keinen Umständen jemals homosexuell sein könnten, und der nun, selber vom Krebs gezeichnet, einem schwulen jüdischen Freund der Familie begegnet, aidskrank in spätem Stadium. „Zu unserer Verblüffung nahm er Paul in die Arme, umschlang ihn, küßte ihn, und während er ihn an sich drückte, murmelte er: „Wir sind zwei Überlebende.“

Diese ebenso ausdrucksstarke, symbolische wie minimalistische Szene steht für die Kunst Yasmina Rezas, Gefühle und Ereignisse mit sensitivem, nie sentimentalem Zugriff zu verdichten. „Eine Sonate“, so hat die musikalisch versierte Autorin, Bewunderin der Werke von Botho Strauß und Marguerite Duras, ihr Buch untertitelt. Zwei dominierende Wesensmerkmale dieser Kompositionsgattung sind der zyklische Aufbau und der thematische Dualismus.

Mit ihren präzisen literarischen Mitteln, die sie eher durch Beiläufigkeit camoufliert, spürt Yasmina Reza dem Kreislauf des Lebens nach, unentrinnbar sich in jeder Generation wiederholend in Leidenschaften, Erfahrungen, Vergeblichkeiten, im „Entsetzen angesichts der Zeit“.

Aber es gibt als kleinen Ausweg zu jeder These auch eine Antithese, ein männliches und ein weibliches Prinzip, dem heroischen Entwurf läßt sich die Idylle entgegensetzen, und strenger Rhythmus kann sich in reine Melodik auflösen – in der Musik, in der Literatur, im Leben.

Yasmina Reza: „Hammerklavier“. Eine Sonate. Aus dem Französischen übersetzt von Eugen Helmlé. Ammann Verlag, Zürich 1998, 160 Seiten, 36 DM