Die Kringeldreherin mit dem Midas-Touch

Die Eiskunstlauftrainerin Jutta Müller, die in der DDR Olympiasiegerinnen von Gaby Seyfert bis Katarina Witt betreute, steht auch mit 70 Jahren noch auf dem Eis und geht ihrem schwieriger gewordenen Beruf nach  ■ Aus Chemnitz Nick Reimer

Daß sich das letzte Playboy- Heft so gut verkauft, liegt an Jutta Müller. „Nein, wirklich“, sagt die Chemnitzerin, „das stört mich nicht. Ich bin nicht prüde.“ Jutta Müller, die morgen ihren 70. Geburtstag feiert, hat zumindest großen Anteil daran, daß sich die Nation solchermaßen für Katarina Witts nackte Brüste interessiert.

Jutta Müller ist die erfolgreichste Eiskunstlauftrainerin aller Zeiten. In den 60er Jahren machte sie zuerst ihre Tochter Gaby Seyfert zur Olympiasiegerin, danach betreute sie Jan Hoffmann, und mit Anett Pötzsch schien endgültig klar: Wer bei Jutta Müller trainiert, wird unschlagbar. Katarina Witt hat es – neben all den erklommenen Siegertreppchen – jetzt sogar zum Titelbild des Playboy geschafft.

„Schöner!“ fordert die Trainerin, „bißchen mehr!“ und: „Brust raus!“ Die 11jährige Sandy Balke rennt über das Eis, streckt und biegt ihren kleinen Körper, springt und steht dann einen Axel mit Bravour. „Vergiß es“, winkt Jutta Müller ab, „du springst, wie du läufst: einfach nicht gestreckt. Gleich noch mal!“

„Der Schnitt“ – so nennt Müller den Beginn ihrer Trainerkarriere – „kam 1955.“ Bis dahin war die Chemnitzerin selbst Rollschuh- und Eisläuferin. In den Pausen der Eishockeyspieler von Einheit Berlin hatte sie ihre Auftritte, was „herrlich war, neben den schweren Jungs“. Die Hockeyspieler nannten Jutta ihre „Kringeldreherin“. Das hat sie beeindruckt. Spaß gemacht hat es sowieso. Schon als Dreijährige schickten sie ihre sportbegeisterten Eltern zum Ballett. Im Winter schraubten ihr entweder der Vater – ein Reichsbahner – oder die Mutter, die einen Schuhladen betrieb, Kufen unter. Im Sommer lief sie Rollschuh, nach dem Krieg bei den Ostzonenmeisterschaften.

Jutta Müller war in der neuen Zeit dabei. Sie trat in die SED ein, noch bevor es die DDR gab, ihre Sportwerbegruppe gründete im zerbombten Chemnitz einen Rollschuhläuferverein, ein achtmonatiger Crashkurs machte sie zur Neulehrerin. In der Schule hat sie sofort einen Chor gegründet und eine Tanzgruppe geleitet, „was sehr viel Spaß gemacht hat“. Trotzdem wechselte Frau Neulehrerin zur HO, der ostdeutschen Handelsorganisation. „Dort wurde man eher mal fürs Training freigestellt.“ Bis 1955 eben. Da war „Schluß mit lustig“ – dem Eislaufen. Der junge Arbeiter-und-Bauern-Staat brauche Trainer, hatten Funktionäre Jutta Müller gedrängt. Fürs Eislaufen sei sie sowieso bald zu alt, und zu internationalen Titeln würde sie es nie bringen. „Da hab ich schweren Herzens aufgehört.“

„Das war gar nicht so schlecht“, sagt Jutta Müller. Sandy Balke ist beim x-ten Versuch, den doppelten Rittberger zur Zufriedenheit ihrer Trainerin zu springen, gerade gestrauchelt. Jetzt steht sie vorm Fernsehgerät und wertet mit Müller ihren Sprung in Zeitlupe aus. „In der DDR war diese technische Ausstattung Standard“, sagt Jutta Müller. Heutzutage muß man froh sein, wenn wenigstens einmal pro Woche ein Kameramann zur Verfügung steht. „Für die Jugendarbeit ist einfach kein Geld mehr da“.

Ihren ersten internationalen Auftritt hatte Trainerin Müller 1961, bei den Europameisterschaften in Westberlin. „Wir waren da ein nothing“, sagt sie. Und schwer war es natürlich, als sozialistischer Starter, bei den Preisrichtern, „die überwiegend aus dem Kapitalismus kamen“. Tochter Gaby wurde damals 21. Der Westberliner Telegraf schrieb: „Den sowjetzonalen Läuferinnen merkte man neben der eisläuferischen die Ballettschule an. Die zwölfjährige Gabriele Seyfert hat noch eine große sportliche Karriere vor sich.“ Acht Jahre später war sie Weltmeisterin.

Mutter Jutta indes drückte nach dem Training die Schulbank. Sie hatte sich an der DHfK in Leipzig als Fernstudentin eingeschrieben. Dem Diplom folgte der sportliche Erfolg: Mit Jutta Müller als Trainerin wurden Jan Hoffman, Anett Pötzsch und Katarina Witt Weltmeister, und ihre „Mädchen“ gewannen dreimal olympisches Gold.

Nach der Wende geriet Jutta Müller im Westen zur Reizperson. Sie sei arrogant, zu hart, selbstsüchtig und die Inkarnation des SED-Staates, warfen ihr die Westmedien vor. Und zu allem Ärger waren ihre Athleten Klassen besser als die westdeutsche Konkurrenz. Müller waren solche Anfeindungen unklar. Ebensowenig versteht sie, warum sie – wie alle anderen Trainer in Chemnitz auch – entlassen wurde und sich mit einem Honorarvertrag begnügen mußte. Sicherlich, es gab eine ganze Menge gutdotierter Angebote aus dem Ausland. „Ich wollte aber nicht“, sagt Jutta Müller. „Hier ist meine Familie, hier bin ich zu Hause.“ Wünsche? Da muß eine solch erfolgreiche Trainerin überlegen. Ach doch, sagt sie dann. „Ich möchte noch einige Jahre gesund bleiben und das Leben erleben. Und diese Arbeitslosigkeit beängstigt mich. Es wäre schön, wenn es wenigstens gelingt, allen jungen Menschen einen Job und damit eine Perspektive zu geben.“

Immer noch schwitzt Sandy Balke auf dem Eis. „Ja“, schreit Jutta Müller plötzlich, „toooll“ und rennt leichtfüßig ins Oval. „Bravo!“ ruft sie und klatscht in die Hände. „Das war sehr schön. Bitte bis nächste Woche weiter üben.“ Auf absehbare Zeit werden aus der einstigen Chemnitzer Medaillenschmiede – vielleicht aus ganz Deutschland – keine Weltklasseläufer mehr hervorgehen, sagt Jutta Müller. „Die Fünfzehnjährigen müßten jetzt schon fünf Dreifachsprünge beherrschen.“ Eine solche Läuferin gibt es in Chemnitz nicht, und wenn eine großes Talent hat, „muß man das junge Fräulein erst mal durch die Pubertät bringen.“

Das Auswahlsystem und die Sportförderung in der DDR waren ganz anders. Früher meldeten sich massenhaft Kinder, heute hätten sie andere Interessen, als sich auf dem Eis zu schinden. Früher hätte es viel mehr Trainer und eine bessere Infrastruktur gegeben. „Das Auflösen der Kinder- und Jugendsportschulen war ein Fehler“, sagt Frau Müller. Und der Sport habe sich entwickelt. Reichte früher ein gut veranlagtes Kind, um es zur Weltspitze zu führen, sei heute ein sehr gut veranlagtes notwendig, und „die sind rar“.

„Es ist unheimlich“, sagt Sandy Balke keuchend, „hart“, als sie die Kufenschoner überzieht – „bei Frau Müller zu trainieren.“ Aber Sandy kennt keine Trainerin, „bei der man so viel lernt“.