„Hauptsache der Schreibtisch steht“

Comeback nach drei Jahrzehnten: die eigenwillige Modernität des Lyrikers Gerhard Neumann. Ein Portrait  ■ Von Jan Bürger

Gerhard Neumann ist eine der wichtigsten lyrischen Stimmen der jüngeren Generation“: Vor 40 Jahren konnte man das landauf, landab in den Zeitungen lesen. Im Insel Verlag waren seine ersten Gedichtbände erschienen, Wind auf der Haut und Salziger Mond. Bedeutende Literaturpreise wurden ihm zugesprochen, darunter das Stipendium der Villa Massimo in Rom, und unter Literaturkennern galt er kaum weniger als die heute weltberühmte Ingeborg Bachmann. „Damals korrespondierte ich mit ihr“, erzählt der 70jährige, der vor zwei Monaten nach Hamburg gezogen ist.

Nachdenklich fährt er sich mit der Hand über den kahlgeschorenen Kopf. Steht auf, zieht einen Ordner mit alten Briefen aus dem Regal. Hält inne, zündet sich eine Zigarette an und lächelt: „Ich möchte doch dies nicht ungesagt lassen: daß ich Sie um die Schärfe Ihrer Konturen beneide, um das Licht, das Ihre Gedichte haben.“ Die lobenden Worte stammen von Paul Celan. 1958 hatte er Neumann geschrieben. Erinnerungen an eine große Zeit, die viel zu kurz anhalten sollte.

Literarische Karrieren sind immer auch Glücksache. Und am Beginn war es für Neumann so schwierig wie für wenige. „Die Nazis haben mich meine Jugend gekostet“, konstatiert der geborene Rostocker, und noch heute spürt man im Gespräch seine Verzweiflung über das, was vor einem halben Jahrhundert geschah. Als Fünfzehnjähriger wurde Neumann 1944 zum Kriegsdienst eingezogen und geriet schon bald in US-amerikanische Gefangenschaft. 1946 kehrte er nach Rostock zurück. Ohne Abitur begann er in der Sowjetischen Besatzungszone eine Lehrerausbildung, bevor er unmittelbar nach der Gründung der DDR in den Westen floh: „Es mag unglaublich klingen, aber 1950 bin ich durch die Wakenitz – den Grenzfluß bei Lübeck – buchstäblich um mein Leben geschwommen.“

Zwanzigjährig stand Neumann vor dem Nichts. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Bergmann, Telegraphenarbeiter und Stauer. In dieser Zeit wurde die Literatur für ihn immer wichtiger: „Im Besitz von 2000 Bogen Papier und einer alten Schreibmaschine begann ich mein erstes Buch. Schon bald interessierten sich ein paar Literaturzeitschriften für meine Gedichte. Damals hatte Lyrik ja noch ein relativ großes Publikum.“

Nach dem Erfolg seiner ersten Bücher geriet Neumann in Vergessenheit. Anfang der 60er Jahre wurde der renommierte Insel Verlag an den Branchenkönig Suhrkamp verkauft: „Daß mein Verlag damals verscherbelt wurde, bedeutete für mich den Verlust des literarischen Zuhauses. Danach war ich mutlos geworden. Sicher, ich habe weiter in Anthologien veröffentlicht, wenn ich dazu eingeladen wurde. Doch Klinkenputzen war nie meine Sache.“ Immerhin hatte er in Wiesbaden als freier Literaturkritiker und Rundfunkautor über Jahre hinweg ein Auskommen.

Als auch auf diesem Gebiet die Aufträge ausblieben, sah er sich 1980 dazu gezwungen, die Bundesrepublik zu verlassen. Neumann zog nach Kopenhagen: „Die Situation war für mich damals aussichtslos. Ich brauchte einfach Geld und nahm deshalb einen Job in einem Übersetzungsbüro in Kopenhagen an. Natürlich hat mir diese Stadt mit ihrer nahtlosen Verbindung von Tradition und Modernität auch sehr gefallen.“

Zehn Jahre später gelang ihm sein Comeback. 1991 erschienen seine gesammelten Gedichte unter dem Titel Mögliches Gelände. Es folgten die Bände Angriff der Möwen und Unter Ziegelbränden. 1997 erhielt Neumann für sein Gesamtwerk die Ehrengabe der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, und als sich dieses Jahr die Gelegenheit bot, nach Hamburg zu ziehen, zögerte er nicht lange: „Hier zu wohnen, ist ein Jugendtraum von mir, den ich nun endlich Wirklichkeit werden lassen wollte.“

Seine Bibliothek nimmt den gesamten Platz an den Wänden der kleinen Wohnung in den Eppendorfer Falkenriedterrassen ein. Einige Kisten stapeln sich noch unausgepackt in der Küche. „Das eilt alles nicht. Hauptsache der Schreibtisch steht.“ Im nächsten Jahr möchte Neumann einen neuen Lyrikband abschließen.

Zeichnen sich seine frühen Gedichte durch ihre atmosphärische Dichte aus, bestechen seine jüngeren Arbeiten durch ihre eigenwillige Modernität. In ihnen begibt er sich auf die Suche nach Momenten äußerster Konzentration. Scheinbar Unwichtiges und vereinzelte Wörter bekommen mitunter den Rang einer ganzen Strophe. „Forelleniris randlos, die / Sensibilität von blauem // Schleim. Verweigert rauhe / Schiffe voller Trost, im Kies // entgleist. Inne. Den / Falerner tupfen // träge die Kadaver / der geblähten Fliegen.“ Bei aller Sparsamkeit besitzen Neumanns Verse eine Anschaulichkeit, wie sie sich in der Lyrik der 90er Jahre viel zu selten findet.

Zuletzt erschienen: Gerhard Neumann, „Unter Ziegelbränden“, Rimbaud Verlag, Aachen 1997, 28 Mark