Hamlet in der Klosterklause

■ Hier kalauern nur Totengräber: Pit Holzwarth hat Shakespeares bekannteste Tragödie puzzlehaft am Leibnizplatz eingerichtet

Weihnachten steht vor der Tür

Wir lassen's fröhlich rein

Denn für manches armes Mütterchen

Wird es das letzte sein

Ha-Haa! Ha-haa! Ha-haa!

och im Norden kommt nur noch den Totengräbern ein solcher Witz über die Lippen. Doch ansonsten ist der Spaß vorbei. Das Theater am Leibnizplatz ist diesmal nämlich kein Ort zum Schenkel klopfen und Zwerchfell kraulen. Denn die Bremer Shakespeare Company hat, wie das Zählwerk auf der vorletzten Umschlagseite des Programmheftes unbestechlich vermerkt, mit „Hamlet“ die nunmehr 30ste Shakespeare-Inszenierung herausgebracht. Und da müßte Trauerspiel drunter stehen, wenn nicht sowieso schon Tragödie drunter stünde.

Schon wieder lockt die Versuchung. Oder ist es vielleicht Wiederholungszwang? Wann immer jedenfalls das kleine und ruhmreiche Theater eine neue Shakespeare-Inszenierung herausbringt, ist man als Bremer Beobachter versucht, statt der Geschichte der Inszenierung die Geschichte der Bremer Shakespeare Company zu erzählen. Denn obwohl Pit Holzwarth, der Regisseur dieser 30sten Shakespeare-Inszenierung, von den Bremer Beobachtern fordert, doch auf die Sache, den Einzelfall, also die Inszenierung zu schauen, und obwohl das Ensemble nahezu vollzählig neu besetzt ist, bestätigt gerade dieser neue Einzelfall: In Sachen Shakespeare geht der Bremer Shakespeare Company langsam, aber sicher die Luft aus. Dabei verheißt der Anfang noch etwas anderes.

Auch Hamlet war einmal eine Versuchung. Von seinem Studienort Wittenberg konnte der junge Prinzstudent früher wunderschöne, glänzende und glühende Liebesbriefe an die hübsche und daheimgebliebene Ophelia schreiben. Doch nun trägt Hamlet schwarz, hockt heftig trauernd an seines Vaters Grab und wird nie nie nie nie wieder zur Feder greifen, denn this is not a love song. Anymore.

Prinz Hamlets Vaters Grab ist ein frischer Haufen Muttererde mitten auf einer schrägen und kreisrunden Scheibe. Sie sieht aus, als sei sie mit Leder bespannt. Hinter diesem schlichten und doch treffend archaisch wirkenden Bild (Bühne und Kostüme: Heike Neugebauer) flackert durch eine Raute blau-weißes Geisterlicht. Und von überall her (tatsächlich aber von rechts oben) flackern von einer Tonne, von Sägescheiben, Blechen und anderen Metallen Donner-, Kapellen- und Geistertöne (ausgelöst durch den Musiker und Komponisten Willy Daum). Schön schaurig also ist das Trauern im Staate Dänemark, der nicht mehr Dänemark heißt, sondern Elsinor oder Helsinor. Aus eben diesem Trauern wird unser Hamlet in den folgenden über drei Stunden nicht mehr erwachen, auch wenn es sich bald in Wut, bald in Wahnsinn und bald in Raserei färbt. Aus dem schönen Schauern aber erwacht die Inszenierung ziemlich schnell.

Um ein halbes Dutzend Nebenfiguren erleichtert, bringt ein halbes Dutzend Company-SchauspielerInnen das Drama auf die Scheibenbühne. Der Regisseur Pit Holzwarth hat einiges Hofpersonal entlassen, nicht aber auf das Höfische verzichtet. Es wimmelt in dieser Inszenierung an gedehnten Auftritten vorzugsweise über den Mittelgang durch den Zuschauerraum. Nur Susanne Höhne als wahnsinnig gewordene Ophelia stolpert diesen langen Weg einmal wirklich furchterregend entlang. Peter Pearce dagegen nimmt als Horatio den kürzeren Weg: Zweimal wird er (warum bloß?) Kopf-im-Sack von der Seite auf die Bühne geworfen, was keiner von den vorhandenen schönen, sondern einer von den vielen kauzigen Regieeinfällen dieser Inszenierung ist. So wird in diesem bildersüchtigen-bilderflüchtigen Schauspiel fortwährend beim Trauern Staub und beim Feiern Glitzer gestreut, so ritzen sich die Männer fortwährend die Hände auf und so muß Ophelia allen Ernstes auf der Spitze eines Kistendeckelchens masturbieren, was nur dank Susanne Höhnes guter darstellerischer Leistung nicht zur Farce gerät.

Durch das Weglassen von Hofpersonal wollte der Regisseur das Geschehen erklärtermaßen auf das Wesentliche reduzieren: nämlich auf die Familientragödie von Hamlet, seiner Mutter und seinem Onkel-Stiefvater-Brudermörder. Pit Holzwarth aber findet überhaupt keine Metapher für diese gefährliche Enge. Natürlich auch wegen der Doppel- und Dreifachrollen, die bis auf Robert Brandt als Hamlet und Susanne Höhne als Ophelia alle anderen (Sylvia Kühn, Erik Roßbander, Peter Pearce und Hans Sigl) zu spielen haben, werden die Fortschritte in den Abgrund nicht erspielt, sondern geraten ziemlich plakativ. Einen der Tiefpunkte erreichen Hamlet und die inszestuös mit ihm verbandelte, gern armrudernde und mit nierenförmig geöffnetem Mund ebenso gern stumm schreiende (oder stumm lachende?) Sylvia Kühn als Mutter Gertrude: Hamlet hat gerade den Polonius erstochen, doch Mutter und Sohn verhandeln in dieser unbeachteten grotesken Situation ihre Familienangelegenheiten weiter, als sei nichts geschehen.

Ansonsten spielt Robert Brandt seinen Hamlet manchmal sehr stark augenrollend und doch meistens abgründig beeindruckend. Im Gegensatz zu anderen Inszenierungen hat dieser Hamlet in Wittenberg nicht Renaissance, sondern ganz eindeutig Religion studiert, was möglicherweise die Kernaussage dieser puzzlehaften Hamlet-Einrichtung ist. In einer Mischung aus mönchischer Selbstkasteiung und teuflischem Besessen sein hält er das Schauspiel über Wasser und kann doch nicht beantworten, warum Pit Holzwarth und die Shakespeare Company dem freundlich applaudierenden Premierenpublikum nun ausgerechnet hier und heute diesen Hamlet erzählen wollen – außer für den unbestechlichen Shakespeare-Counter auf der vorletzten Umschlagseite des Programmheftes, der mittlerweile die 30ste Inszenierung zählt.

Christoph „Ratlos“ Köster

Weitere Aufführungen: 16., 18., 19., 29. und 30. Dezember sowie 13., 14. und 28. Januar um 19.30 Uhr