Öcalan ist kein Arafat – oder?

■ Die Fixierung auf Abdullah Öcalan versperrt den dringend notwendigen Dialog zur Lösung der Kurdenfrage in der Türkei. Ein Interview mit dem Journalisten und Schriftsteller Günter Wallraff über Führermythos und europäische Türkeipolitik

taz: Der PKK-Führer Abdullah Öcalan soll einem internationalen Gerichtshof überstellt werden. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung und die Haltung der Bundesregierung, die als Grund für den Verzicht auf die Auslieferung Öcalans eigene Sicherheitsbedenken betont?

Günter Wallraff: Ich bin gespalten. Einerseits sehe ich sehr wohl, daß in einem Rechtsstaat auch ein juristisches Vorgehen gegen Öcalan berechtigt wäre. Er hat auch in Deutschland Menschen umbringen lassen und Terroraktionen in Auftrag gegeben. Andererseits sehe ich auch die Problematik der Zerreißprobe, denn es könnte von kurdischer Seite einiges in Deutschland zu erwarten sein.

Wäre Deutschland ein neutraler Gerichtsort?

Ich sehe ein Problem darin, daß Deutschland zwar juristisch die Rechtfertigung hätte, moralisch schon weniger, denn Deutschland ist Kriegspartei. Deutschland hat den Kurdenkrieg mit angeheizt und hat durch jahrelange, bedenkenlose Waffenlieferungen in Form von Leopard-Panzern, G-3-Gewehren und Minen mit dazu beigetragen, daß diese kriegerischen Aktionen eines nie erklärten Krieges gegen die kurdische Bevölkerung liefen.

Haben Sie deshalb selbst die Idee eines internationalen Gerichtshofs geäußert?

Stellen Sie sich vor, wie die Türkei reagieren würde, sollte die Beweislast gegen Öcalan doch nicht ausreichen und er deshalb aus rechtsstaatlichen Gründen, so paradox dies klingen mag, freigesprochen werden. Aus diesem Grund habe ich die Vorstellung eines internationalen Gerichtshofes geäußert. Ich bin jedoch der Auffassung, daß sich Öcalan dort nicht allein verantworten sollte, sondern ebenso hohe türkische Politiker und Militärs. Auch sie müßten wegen Kriegsverbrechen belangt werden. Das wäre dann ein Verfahren, das unter Umständen nicht nur die Schuldfrage klären, sondern auch eine neue Perspektive eröffnen könnte.

Auch Abdullah Öcalan hat den Vorschlag eines internationalen Gerichtshofes gemacht. Will er sich auf diese Weise eine internationale Bühne für seine politischen Ambitionen schaffen?

Ich glaube, er hat diesen Vorschlag nur beiläufig geäußert, als er selbst überhaupt nicht damit gerechnet hat. Öcalan hat nie seinen Kopf hingehalten oder ein Risiko auf sich genommen. Er ist feige. Er hat andere verheizt, und er hat Abtrünnige, Andersdenkende umbringen lassen. Öcalan hat keinen neben sich und erst recht nicht über sich geduldet. In der PKK- Bewegung sind fähige Personen mundtot gemacht, physisch oder psychisch vernichtet worden. Öcalan ist kein Arafat, auch wenn er gerne als solcher gehandelt wird. Arafat hat kompetente, intelligente Menschen um sich gescharrt. Öcalan hat diese ausgeschaltet.

Wenn es mit einem Gerichtshof ernst würde, dann wäre dies für die gesamte türkisch-kurdische Angelegenheit eine Grundlage.

Allerdings ist solch ein Gerichtshof eine sehr langwierige Angelegenheit. Versprechen sie sich nicht zuviel davon?

Was jetzt vor allem geschehen muß, ist ein Neubeginn der Türkeipolitik innerhalb Europas. Einerseits muß die Türkei in die Schranken gewiesen werden, dort wo sie Kriegshetze betreibt und einen Nationalismus hochputscht. Ich finde, daß auch die Bundesregierung gefordert ist. Sie ist bisher immer eingeknickt und hat sich weggeduckt und herauslaviert.

Welche Perspektiven sehen Sie?

Staaten wie Frankreich, Norwegen und Schweden sind gefordert, behutsame Kontakte zu türkischen Politikern herzustellen. Es gibt diese Politiker, gerade jetzt, wo es auf Grund der aktuellen Krise in der Türkei eine neue Regierung und eine politische Neuorientierung geben wird. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, daß der Türkei eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union unter bestimmten Bedingungen ermöglicht wird. Zu diesen Bedingungen gehört natürlich vorrangig eine Kurdenpolitik, die das Problem von türkischer Seite löst. Eine Amnestierung der politischen Gefangenen und eine durch eine internationale Kommission kontrollierte Garantie, daß Folter, Menschenrechtsverletzungen und Zensur nicht mehr stattfinden. Dazu ist ein überparteiliches Gremium notwendig, das neutral ist und Menschenrechtsverletzungen der kurdischen Seite genauso anprangert. Diese Bedingungen müßten in einem Mitgliedsvertrag vereinbart werden. Es müßte jetzt sehr schnell etwas passieren, auch um Öcalan den Boden zu entziehen.

Gibt es eine Alternative zu Öcalan?

Es gibt zahlreiche Persönlichkeiten, die auch im Ausland unter den kurdischen Emigranten Ansehen genießen. Sie sollten sich endlich emanzipieren und zu Wort melden. Sie müssen ausbrechen aus diesem doktrinären, halbstalinistischen Personenkult.

Liegt die Schuld dafür, daß sich gegen Abdullah Öcalan keine andere kurdische Stimme durchsetzen konnte, nicht auch bei der Linken Europas und ihrer unkritischen Haltung zur PKK und ihrem Führer?

Öcalan hatte nie eine politische Perspektive. Er war von einem brutalen Killerinstinkt erfüllt. Das muß man so kraß sagen, obwohl immer wieder Leute erschrecken, wenn ich das so klar ausdrücke. Das liegt sicherlich daran, daß viele auf ihn herein gefallen sind, wie z.B. Udo Steinbach, der Leiter des Hamburger Orient-Institutes und Berater der Bundesregierung. In mehrtägigen Gesprächen ist Steinbach von Öcalan so „eingeseift“ worden, daß er in einer vertraulichen Studie an die Bundesregierung „gefaselt“ hat, was Öcalan doch für eine Zukunft und Perspektive hätte. Gerade Deutsche sind bei Menschen, die über Tod und Leben entscheiden und Macht ausüben, nicht nur gegruselt, sondern auch fasziniert.

Sind nicht auch die türkischen Militärs im Grunde genommen dankbar, daß es einen Mann wie Öcalan und eine Organisation wie die PKK gibt, denn dadurch fällt ihnen die öffentliche Propaganda relativ leicht?

Das war immer meine Theorie. Sie hätten ihn erfinden müssen, wenn es ihn nicht schon gegeben hätte. Sie haben ihre Vormachtstellung, ihre Pfründen auch immer auf diesem Krieg begründet.

Die Diskussion um Öcalan und die PKK wird emotional geführt. Auch die kurdisch- und türkischstämmigen Deutschen sind davon nicht verschont geblieben. Welche Chancen sehen Sie, daß diese Menschen eine Brücke herstellen können zwischen Europa und der Türkei im Interesse der Lösung des Konfliktes?

Ich sehe darin eine Chance, weil diese Menschen einen etwas verfremdeten und distanzierten Blick haben. Sie könnten aus dieser Distanz vielmehr die positiven Seiten der jeweiligen Kulturen erkennen und die negativen von sich weisen. Viele der zweiten und dritten Generation tun dies ja auch. Von daher bin ich ein Verfechter der doppelten Staatsbürgerschaft.

Stichwort doppelte Staatsbürgerschaft. Es könnte in Deutschland ein Konflikt zwischen nationalistischen türkischen und kurdischen Gruppen offen aufbrechen. Sehen Sie die Gefahr, daß konservative Kreise diese Konflikte als Argumentationshilfe mißbrauchen, um die geplante Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts zu verhindern?

Das ist ja schon im Gange. Auch in der SPD, wo jetzt Politiker, von denen man das nicht erwartet hat, wieder eine gewisse Hetze betreiben. Beispielsweise Herr Schily, der jetzt einer Volksstimmung nachgibt und nach dem Munde redet. Bei den Grünen gibt es noch eine gewisse Grundhaltung, auf die man sich verlassen kann. Innerhalb der SPD kann ich das, was sie die Neue Mitte nennen, nur als neue Mittelmäßigkeit erkennen.

Muß man demzufolge den Deutschlandtürken und -kurden deutlich machen, daß es hier nicht nur um Öcalan und die PKK, sondern um ihre eigene Zukunft geht?

Man sollte weniger über Öcalan reden, denn der wird sich vielleicht, wenn es den internationalen Gerichtshof nicht gibt, irgendwo zur Ruhe setzen. Kuba allerdings hätte ihn nicht verdient, er sollte vielleicht Nord-Korea erleben, denn da ist der gleiche Personen- und Führerkult im Extremen verwirklicht, und das Gesellschaftsmodell, das er anstrebte, ist dort in Reinkultur geschaffen worden. Ansonsten ist sein Schicksal uninteressant. Wichtig ist, daß sich die kurdische, demokratische Bewegung endlich von Öcalan löst. Das ist jetzt überfällig. Interview: Claudia Danschke/

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