„Durch Fehler passieren Tore“

Muß man das 2:2 zwischen Schalke und 1860 München als verlorene Lebenszeit verstehen? Nein, eher als Lehrbuchstück „Die ewigen Wahrheiten des Fußballspiels“  ■ Von Katrin Weber-Klüver

Gelsenkirchen (taz) – Es gibt wenige Plätze auf dieser Welt, die sich so gut eignen, den Unterschied zwischen subjektiv erlebter und objektiv verstrichener Zeit zu beobachten wie ein Fußballstadion. Im Parkstadion war es so: 15.32 Uhr Anpfiff. Bald rutscht man auf dem kalten Plastikschalensitz herum und schaut traurig in den grauen Himmel, wenn auf dem graugrünen Rasen umständlich Freistöße wiederholt werden oder sich übellaunige Angreifer mit einem noch übellaunigeren Schiedsrichter angiften. Man überlegt, was es wohl zum Abendessen geben wird und ob die Geschenkliste für Weihnachten bereits der Weisheit letzter Schluß ist.

Und dann, so ungefähr eine Stunde nach Anpfiff, sieht man auf die Uhr und stellt fest: Es ist zehn vor vier. Tolle Perspektive: Noch etwa vier gefühlte Stunden auf dieser Haupttribüne zu hocken, die kollektiv schlechte Laune hat und nur einmal einen halbherzigen, (objektiv gemessen) 30sekündigen Versuch machen wird aufzusehen, weil sie Schalker ist.

Zurück auf Anfang: Alle Erfahrungswerte sagen, daß gerade Spiele, die zunächst aussehen wie ausgelutschtes Kaugummi schmeckt, mitunter noch unterhaltsam werden. Die Begegnung des ehemaligen Uefaplatzkandidaten Schalke 04 und des designierten Champions-League-Kandidaten TSV 1860 München wurde es auch, und zwar als Lehrbuchstück, Kapitel „Ewige Wahrheiten des Fußballspiels“.

Der Schnelldurchlauf, Punkt eins: Wer seine Chancen nicht nutzt... Die Schalker hatten in der ersten Halbzeit ein halbes Dutzend, meist hart erarbeitet und allesamt mehr schlecht als knapp vergeben. Und Fleißkärtchen und Sonderpunkte für Feldüberlegenheit gibt es nun mal nicht, dem Auslassen von Chancen folgt daher die Strafe auf dem Fuß.

Und zwar, Weisheit zwei, im psychologisch wichtigen Moment. Das ist gemeinhin kurz vor und nach der Pause. 1860 machte präzise in der 45. mit einem Konter, den Schroth abschloß, das 1:0. Und in der 49. Minute bedankte sich Cerny, daß sein Gegenspieler Eigenrauch einen weiten Abschlag Hofmanns nicht unter Kontrolle bringen konnte, und schoß Reck den Ball durch die Beine. Dieses 100prozentige Ausnutzen von Möglichkeiten hätte man Effektivität nennen können, wenn, ja wenn jetzt nicht die Schalker ihrerseits in die Kiste mit den kollektiven Gewißheiten gegriffen hätten.

Heraus holten sie die Erfahrungen Nummer drei bis fünf. Spiele beschleunigen sich in ihrem Schlußsechstel und nehmen an Intensität zu, wenn zumindest eine Seite glaubt, noch etwas reißen zu können. Diesen Glauben setzte präzise in der 75. Minute Kmetsch frei, der mit einem „Sonntagsschuß“ den Anschlußtreffer erzielte. Das mit dem Sonntagsschuß sagte 1860-Torwart Hofmann, der fand, „das Glück hat nicht auf unserer Seite gestanden“.

Inzwischen war zu den beiden Treffern der Münchner tatsächlich noch eine dritte Chance, die erste vergebene, hinzugekommen. Und noch viel später (90.) bekamen die Münchner sogar ihre erste Ecke, die Schalker hatten da schon zehn. Von denen wiederum regte jene die Münchner besonders auf, die dem Anschlußtreffer vorausgegangen war. Und wirklich hätte diese Ecke ein Einwurf sein müssen. So gesehen kann man Hofmann verstehen: Das Glück war nicht parteiisch, sondern teilte sich gerecht auf beide Seiten (Weisheit vier) auf und stand daher besonders am Ende auf Seiten der Gastgeber. Ganz besonders ganz am Ende. Regel fünf besagt: Ein Spiel dauert 90 Minuten. Und wer ein 2:1 über die Zeit retten will, indem er sich gegenseitig am eigenen Strafraum über den Haufen läuft, wird auch bestraft. In diesem Fall durch den eingewechselten Wilmots, der nur unzureichend bedrängt eine Flanke auf Max zog, die der allein sicher wieder vergeigt hätte, aber Gegenspieler Kurz half nach, indem er mehr oder weniger in den Ball fiel. Da blieb Münchens Trainer Lorant nur die Analyse, die alles erklärt: „Durch Fehler passieren Tore.“

Subsumieren wir mit der größten aller Fußballwahrheiten: Das ist Fußball. Oder sagen einfach: Gut, daß bald Winterpause ist. Blöd nur, daß man allerspätestens Anfang Januar das Gefühl haben wird, es werde noch Monate dauern, bis endlich, endlich wieder gekickt wird.

S04: Reck – Müller (54. Wilmots) – van Hoogdalem, Eigenrauch – Goossens (63. Latal), Nemec, Kmetsch, van Kerckhoven – Mulder – Max, Eijkelkamp (73. Anderbrügge)

1860 München: Hofmann – Vanenburg – Greilich, Kurz – Stevic, Quakili (59. Dinzey), Zelic, Malz, Richter (68. Gorges) – Cerny, Schroth – Zuschauer: 36.185

Tore: 0:1 Schroth (45.), 0:2 Cerny (49.), 1:2 Kmetsch (73.), 2:2 Kurz (90./Eigentor)