Philosophische Sphärenmusik

Seifenblasen in die Welt entlassen und ihren Weg mit Emphasen der Aufmerksamkeit verfolgen. Peter Sloterdijk denkt über Sphären nach und versucht sich mit großem Überbietungsgestus an Freud und Heidegger. Gegenwärtige Kulturkritik inklusive  ■ Von Konrad Paul Liessmann

Möglich, daß manchmal erste Sätze schon alles verraten. Peter Sloterdijk beginnt sein großangelegtes Sphärenprojekt mit einer Reminiszenz an Platon, der am Eingang seiner Akademie eine Inschrift angebracht haben soll, jeder möge sich von diesem Ort fernhalten, der nicht Geometer sei. Gegenüber der traditionellen Lesart dieser Sentenz nimmt Sloterdijk eine kleine, aber wichtige Verschiebung vor. Ageômetrêtos mêdeis eisitô – keiner, der nichts von Geometrie versteht, trete hier ein, wird in der Regel übersetzt und dazu der Hinweis gegeben, daß Geometrie im Sinne von Mathematik zu verstehen sei. Aus demjenigen, der den pythagoreisch-platonischen Ideen der reinen Zahlen und Proportionen auf der Spur ist, macht Sloterdijk den Geometer, den Landvermesser, der selbst wiederum einer eklatanten Bedeutungsverschiebung unterzogen wird: „Ein Geometer nämlich, was ist das? – eine Intelligenz, die aus der Welt der Toten kommt und vage Erinnerungen an den Aufenthalt in einer vollkommenen Sphäre ins Leben mitbringt.“

Nicht um den physikalischen, auch nicht um den kantianischen und auch nicht um den euklidischen Raum geht es Sloterdijk, sondern um die begriffliche Vermessung jener Sphären, jener intimen Räume und emotionalen Kugeln, die Sloterdijk als das „innenhafte, erschlossene, geteilte Runde, das Menschen bewohnen, sofern es ihnen gelingt, Menschen zu werden“ bestimmt: „In Sphären leben, heißt, die Dimensionen erzeugen, in der Menschen enthalten sein können.“

Sphären also. Sloterdijk reformuliert gewissermaßem das geheime Programm der Platonischen Akademie, um eine Philosophie als Lehre von den Sphären, in denen Menschen immer schon leben und deren Kenntnisse durch den Prozeß der Rationalisierung verlorengegangen sind, zurückzugewinnen. Zum prägnanten Bild für dieses Vorhaben wird das Kind, das im zweckfreien Spiel mit seinem Hauch Seifenblasen in die Welt entläßt und diese mit einer „Ekstase der Aufmerksamkeit“ verfolgt. Daran schließen sich jene Fragen, die Sloterdijks großangelegtes Unterfangen motivieren: „Wenn das Kind den Seifenblasen seinen Atem eingehaucht hat und ihnen mit seinen ekstatischen Nachblicken treu bleibt – wer hat dann zuvor seinen Atem in das spielende Kind gelegt? Wer hält dem jungen Leben bei seinem Exodus aus dem Kinderzimmer die Treue?“ Anders gefragt: In welchen Sphären, das heißt, in welchen Zwischenräumen, in welchen „Mikrokosmen der verschränkten Interiorität“ leben wir als Menschen, und wer ist dafür verantwortlich, daß in ihnen überhaupt gelebt werden kann?

Sloterdijk beantwortet diese Fragen nicht, wie vielleicht ihre Exposition nahelegt, rein spekulativ, sondern eher kulturgeschichtlich, mit einem deutlichen philosophischen Impetus: Das Erfragte will letztlich auf einen Begriff gebracht werden. Und wie immer man im Detail zu Sloterdijks Ansätzen stehen mag, er ist zweifellos einer der wenigen Denker der Gegenwart, der Philosophie noch beim Wort nimmt: Als eine Wissenschaft, der es darum gehen muß, überhaupt erst einmal zu denken, denn „nur die Philosophie kann es sein, von der die Intelligenz erfährt, wie ihre Leidenschaften zu Begriffen kommen“.

Eine das gesamte, auf drei Bände angelegte Projekt grundierende These ist dann auch, daß die begriffliche Bewältigung des Problems der Sphären, also der Bindungen und Verbindungen, die es Menschen erlaubt, in Binnen- und damit Kommunikationsräumen zu leben, den entscheidenden Blick auf jene Phänomene erlaubt, denen, oft ohne es zu wissen, alle Medientheorie hinterher ist: „Medientheorie: Was ist sie, lege artis ausgeübt, anderes als die begriffliche Nacharbeit zu regelmäßigem Besuch, diskretem und indiskretem? Botschaften, Absender, Kanäle, Sprachen – es sind dies meistens mißverstandene Grundbegriffe einer allgemeinen Wissenschaft der Besuchbarkeit von Etwas durch Etwas in Etwas.“ Sloterdijk möchte zeigen, daß eine anvancierte Medientheorie nur als eine Sphärentheorie denkbar ist, die alle Lebensräume des Menschen begreifen will: von der Fruchtblase bis zum globalisierten Globus.

Der vorliegende erste Band, „Blasen“, spürt den Mikrosphären nach, den Räumen der ersten Anwesenheit. Sloterdijk beginnt mit einer inspirierten Auslegung der ersten Inspiration, der Behauchung des Lehmmenschen durch seinen Gott, um daraus eine exzentrische Philosophie der Geburtlichkeit, eine „negative Gynäkologie“ zu entfalten, die mit viel Aufwand erst einmal die intrauterinen Räume der vorgeburtlichen Existenz ausmessen, die Mutter-Kind- Dyade auf den Begriff bringen will. Von einem „Interkordialraum“ der ersten Herzschlagintimität über die „Interfazialsphäre“ der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht und dem damit verbundenen Rätsel der Faszination bis zum „Resonanzraum“ der Mutterstimme und ihren „messianisch- evangelisch-musischen“ Nachbildungen reichen Sloterdijks Versuche, die unmittelbaren Daseinsweisen des Menschen in einem intimen Raum zu bestimmen. Entscheidend für alle diese durch kulturhistorische Exkurse angereicherten Reflexionen ist die Absage an das gängige Modell, daß der Mensch sein Raum-Verhältnis über eine klare Subjekt-Objekt- Relation gewinnt. Nicht abgetrennte Individuen, die einer Welt von Objekten gegenüberstehen, sind die Menschen, sie leben immer schon in einem „unaufgebbaren intimen Etwas, in dessen Gegenwart und unter dessen Resonanz das Subjekt allein vollständig ist“.

Dieses Etwas, diese Resonanzräume, diese in der Mythologie auch als Engel beschriebenen imaginären Begleiter und Ergänzungen des Subjekts nennt Sloterdijk mit einem Begriff des Kulturwissenschaftlers Thomas Macho, dem die Sphären eingestandenermaßen vieles verdanken, „Nobjekte“. Das Vergessen einer Daseinsweise im je schon gegebenen Miteinander, die vermeintliche Selbstkonstitution des Menschen durch reine Objektbeziehungen, an der nicht zuletzt die Psychoanalyse mitgearbeitet hat, unterzieht Sloterdijk dann auch einer radikalen Kritik: „Die Fixierung an die Objekte ist selbst die logische Matrix der Neurose. Unnötig zu erklären, welche Zivilisation es ist, die an ihr wie keine andere leidet.“

Es erscheint unter diesen Perspektiven nahezu folgerichtig, daß die christliche Trinitätslehre als erster konsequenter Versuch begriffen wird, essentielles Miteinander zu denken, das, weil es kein reines Gegenüber oder Nebeneinander ist, eines Dritten bedarf: „Wenn je der Gedanke an eine Intersubjektivität a priori in Betracht gezogen wurde, dann bei der Ineinanderverschlingung der trinitarischen Personen.“ Und ebenso folgerichtig erscheint es, daß die von Sloterdijk auf Rousseau zurückdatierten Versuche, den Menschen als isolierten Einzelfall in einer fremden Umwelt zu begreifen, als katastrophales Selbstmißverständnis gedeutet werden muß: „Mit Rousseau beginnt das Zeitalter der letzten Menschen, die sich nicht schämen, als Produkte ihrer Milieus und als Einzelfälle sozialpsychologischer Gesetze aufzutreten. Darum ist seit Rousseau die Sozialpsychologie die wissenschaftliche Form der Menschenverachtung.“

Sloterdijks „Sphären“ sind zweifellos von einem großen spekulativen Überbietungsgestus gekennzeichnet. Dieser kennt im wesentlichen zwei Adressaten. Sigmund Freuds Psychoanalyse, deren Objektfixierung einer pointierten Revision unterzogen wird, und Martin Heideggers Existentialontologie, von der Sloterdijk retten will, was noch zu retten ist, indem ein impliziter Gedanke von Sein und Zeit überhaupt erst zur Entfaltung gebracht werden soll: Sein und Raum.

Der große, im Wortsinn weltumspannende Gestus hindert Sloterdijk übrigens nicht daran, hin und wieder dem Zeitgeist kräftig in die Parade zu fahren. Ein Exkurs etwa weist nach, „von wo an Lacan sich irrt“, Platons Ideenlehre erscheint als die erste Theorie der Virtualität, so daß die aktuelle Virtual-space-Publizistik gerade noch rechtzeitig kommt, „um sich an den 2400-Jahr-Feiern der Entdeckung des Virtuellen zu beteiligen“, und in einem der faszinierendsten Kapitel des Buches, einer kühnen Deutung der Sirenenepisode aus der Odyssee, die den unwiderstehlichen Gesang der Sirenen nicht als Naturlaut, sondern als den sehnsuchtsvollen Klang des eigenen Inneren interpretiert, heißt es mit einem bösen Blick auf den Kulturbetrieb plötzlich: „Odysseus am Mast – das ist heute ein Kunstpreisträger, der mit geneigtem Kopf seine Laudatio übersteht.“

Solche Bemerkungen verleihen dem Buch über alle Anstrengung des Begriffs hinaus den Charakter einer scharfsinnigen Gegenwartsdiagnostik. Denn immerhin, so Sloterdijk am Ende, muß die Kantische Frage: Was dürfen wir hoffen? nach den Erfahrungen unseres Jahrhundert folgendermaßen umformuliert werden: „Wo sind wir, wenn wir im Ungeheuren sind?“ Die Erwartungen für die Folgebände sind also hoch gesteckt.

Peter Sloterdijk: „Sphären. Mikrosphärologie Band I: Blasen“. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1998, 644 S., Leinen 78 DM, kart. 48 DM