Clinton adoptiert Palästina

Mit dem gestrigen Besuch des US-Präsidenten im Gaza-Streifen ist der Nicht-Staat endgültig in Washingtons Familie aufgenommen. Der Stiefbruder Israel schmollt  ■ Aus Gaza Georg Baltissen

Der rote Teppich ist zu kurz. Zehn Meter entfernt ist der Hubschrauber des US-Präsidenten gelandet. Zwei Helfer mit einem weiteren Stück Teppich laufen herbei. In Windeseile ist er ausgerollt. Dem historischen Moment steht nichts mehr im Wege.

Zum ersten Mal betritt ein Präsident der USA den Boden eines autonomen palästinensischen Gebietes. Mit Blumensträußen in der Hand verlassen Bill und Hillary Clinton um genau 10.33 Uhr Ortszeit den Helikopter. Palästinenserpräsident Jassir Arafat und seine Frau Suha nehmen die hohen Gäste in Empfang. Anschließend muß Clinton die lange Reihe des vollständig angetretenen palästinensischen Kabinetts abschreiten und jedem Minister die Hand schütteln.

Eine riesige US-Flagge ist um den Tower des Flughafens drapiert. Auf seiner Spitze wehen jede Menge kleinere palästinensische und US-amerikanische Flaggen. Obwohl die ersten Flugzeuge schon vor knapp drei Wochen hier gelandet sind, darf Clinton den Flughafen offiziell eröffnen. Das rote Band mit der Aufschrift „Internationaler Flughafen von Gaza“ wird zuerst von Arafat durchschnitten. Anschließend gibt er die Schere an Clinton weiter, der dann mehrere arabische Buchstaben ausschneiden muß, die Arafat anschließend an Bill und Hillary Clinton als Souvenir überreicht.

Hubschrauber bringen die Besucher zu Arafats Hauptquartier in Gaza-Stadt. Unzählige Fähnchen sind in den vergangenen Tagen genäht worden. An Hochhäusern in Gaza hängen jeweils eine riesige US-amerikanische und eine palästinensische Flagge. Nichts symbolisiert die neue Freundschaft so wie dieses Meer von Fahnen. Erst vor wenigen Tagen noch gingen zahlreiche US-Flaggen bei palästinensischen Straßenprotesten in Flammen auf. In den Straßen von Gaza sind Bilder von Arafat und Clinton plakatiert, wie sie sich die Hände schütteln.

Ein zufrieden lächelnder Arafat verteilt Komplimente an den Gast: „Wegen Clinton wird der Frieden im Nahen Osten einziehen“, sagt er. „Und das werden wir niemals vergessen. Der Besuch ist eine große Ehre. Wir sind sehr stolz, daß Präsident Clinton hier bei uns ist.“ Der Besuch kommt in den Augen der Palästinenser der Anerkennung eines eigenen Staates zumindest nahe. Doch Clinton versucht die hohen Erwartungen zu dämpfen. „Es gibt zwei historische Elemente an diesem Tag“, erklärt er. „Das eine besteht darin, daß ich hierhin gekommen bin und den Besuch machen konnte. Das andere besteht darin, daß der Palästinensische Nationalrat auf seiner Versammlung heute klarmachen kann, daß das palästinensische Volk den Frieden mit Israel sucht.“

Zwar muß der Nationalrat laut dem Wye-Abkommen nicht erneut über die Annullierung der Palästinensischen Charta abstimmen. Diese Entscheidung wurde schon im April 1996 mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit getroffen. Dennoch versprach der palästinensische Minister Nabil Schaath am Vorabend des Clinton- Besuchs, daß es eine eindeutige Geste seitens des Nationalrats geben werde, der die Annullierung der Charta bekräftigt.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat angedeutet, daß er sich mit einer solchen Geste zufrieden geben werde. Zugleich verlangte er zusätzlich, daß die Palästinenser unmißverständlich Abstand nehmen von der Idee, im Mai 1999 nach dem Ende des fünfjährigen Oslo-Prozesses einseitig einen palästinensischen Staat auszurufen. US-Außenministerin Madeleine Albright bezeichnete es unterdessen als „nicht hilfreich“, neue Bedingungen zu stellen, die in Wye nicht formuliert wurden.

Enthüllt worden ist bislang nicht, wer in Wye eigentlich die Idee zu Clintons Besuch im Gaza- Streifen hatte. Doch eines ist während des Besuchs unmißverständlich klargeworden: Die israelische Regierung ist alles andere als erfreut über diese amerikanisch-palästinensische Annäherung. Ein israelischer Beobachter formulierte es so: „Die israelische Regierung muß nun zur Kenntnis nehmen, daß Israel nicht mehr das einzige verhätschelte Kind der USA ist, sondern daß es ein weiteres Familienmitglied gibt.“ Kommentar Seite 12