Märkte & Knäste I: Vom Arriviertenproletariat Von Joachim Frisch

Willst du ein Volk kennenlernen, schau dir seine Märkte und Knäste an, sagte einmal ein kluger Mann. Weil ich das Hamburger Volk kennenlernen will, suche ich das bunte Treiben zwischen rosigwangigen Marketenderinnen, hemdsärmeligen Fischhändlern und herzhaft duftenden Currywurstbuden.

Im feinen Uhlenhorst unweit der Außenalster, wo noch Dienstmädchen die Kartoffeln schälen, die ihre Herrinnen zuvor höchstselbst auf dem Markt ausgesucht haben (frau kennt ja sein Personal, wem sag' ich das), finde ich den Wochenmarkt am Immenhof. Hier holt die Gattin des Architekten Früchte ein und plaudert mit dem Gemüsehändler, der nicht knollnasig und rotgesichtig daherkommt, sondern wuschelbärtig in sanftem Bariton säuselt. Mit ihm läßt sich über Frische, Schnittfestigkeit und Vitamingehalt fachsimpeln, nicht nur über Schmuddelwetter und Fußball.

Ein Drittel aller Marktstände hat sich der gesunden Ernährung seiner Kundschaft verschrieben, bietet bioland-, demeter- oder ökovolleknollegetestete Ware, denn ordinäres Billiggemüse mutet hier keine Hausfrau dem Herrn Gemahl zu. Das zweite Drittel sorgt für die Freuden des Gaumens, Rehrücken, gespickt, Seezungen, Knurrhähne, Shrimps in diversen Dips und Aal und Lachs, nicht der vulgäre in schmierigem Plastik, sondern Wildfang mit Dillrand.

Das letzte Drittel verbreitet dezente Exotik: Griechen und Türken mit Oliven, Knoblauch, Schafskäse, Fladenbroten, ein Südostasiat mit Mangos und Litschies. Mir ist rätselhaft, wer all die unzähligen in Knoblauchsud eingelegten Oliven aufißt. Ein noch größeres Rästel aber gibt die Würstchenbude am Rande des Marktes auf. Was hat sie hier zu suchen? Sie duftet nicht herzhaft, sondern stinkt nach ranzigem Fett, das Angebot ist weder gesund noch deliziös oder exotisch. Und mehr als drei Drittel geht gar nicht, selbst nach den Regeln der Algebra gehört die Wurstbude nicht hierher. Kunden hat sie eh nicht.

Schon naht des Rätsels Lösung, eine Frau Mitte vierzig im Tausendmarkfummel mit Dreihundertmarkfrisur, Rehrücken im Korb. Statt angewidert die Nase zu rümpfen und einen Bogen um den Wurstmann mit seiner klebrigen Gummischürze zu machen, wirft sie ihm ein wohlgelauntes „Hallöchen“ zu, derweil sie wie ein Backfisch winkt und fuchtelt.

Ein zufällig des Weges kommender Soziologe klärt mich auf: Soeben haben wir eine Vertreterin des neuen Arriviertenproletariats beobachtet, einem Komplementärphänomen des Povertyjetsets. Letzterer bringt die Sozi mit Sushi und Reisen nach Malaysia durch, ersteres snieft den kruden Zauber der Proletenwelt und das feiste Flair des Vulgären, zum Beispiel im eklen Wurstdunst.

Von diesem ist mir speiübel. Der Weidenkorb ist noch immer leer, der Kopf benebelt und mit neuen Rätseln verwirrt (Wovon lebt der Würstchenmann? Wo kam der Soziologe her? Wieso konnte er meine Gedanken lesen?), ich geniere mich – immerhin habe ich keck behauptet, hier lerne man das Volk kennen, und nun muß ein Soziofuzzi wie aus dem Nichts daherkommen und ... Sei's drum, auf geht's in den Knast (über Los, nur zu Besuch), wo es mehr zu erfahren gibt über das Volk, unter dem ich leben muß.