Die umfassendste Gen-Datei der Welt: Island will die Gesundheitsdaten aller Einwohner, egal ob lebend oder tot, abspeichern – in einer kommerziellen Biotechnikfabrik. Patienten werden nicht gefragt. Das Gesetz dazu steht vor der Verabschiedung. Von Wolfgang Löhr

Ein Volk in der Datenbank

So häufig kommt es nicht vor, daß eine Biotechnologiefirma über Monate hinweg die Schlagzeilen der nationalen Presse bestimmt. Doch auf Island ist es passiert. 270.000 Menschen leben auf der Insel im kalten Nordatlantik. Eine Firma spaltet die Nation. deCode Genetics, einziges Gentech-Unternehmen Islands, will die persönlichen Daten der Isländer speichern und vermarkten. Aller Isländer. Auch der Toten.

Alle jemals in Island erfaßten persönlichen Gesundheitsdaten, Krankenakten, Totenscheine, Verwandtschaftsbeziehungen und Erbgutanalysen sollen in einer zentralen Datenbank zusammengefaßt und für die Entwicklung von neuen Medikamenten und Diagnosemethoden ausgewertet werden. Nur die Namen sollen anonymisiert werden. deCode will die Exklusivrechte für die Verwertung der Datenbank haben. Nur dann, so ließ der Firmengründer Kári Stefánsson verlautbaren, lohnten sich auch die Investitionen.

Ende März legte die Gesundheitsministerin Ingibjorg Pálmadóttir einen ensprechenden Gesetzentwurf vor. Vier Tage lang, teilweise bis in die frühen Morgenstunden hinein, debattierte vergangene Woche das Althingi, das isländische Parlament. Gestern ging der Entwurf in die dritte und letzte Lesung. Noch im Lauf dieser dieser Woche soll es endgültig verabschiedet werden. Die Mehrheitsverhältnisse sind eindeutig: Von den 63 Parlamentariern votieren in der zweiten Lesung nur acht gegen die systematische Erfassung aller lebenden und verstorbenen Bewohner Islands.

Vorgesehen ist, daß die zentrale Datenbank von einem privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen aufgebaut und verwaltet wird. Einziger Anwärter für dieses Unternehmen ist deCode. Einen ersten, millionenschweren Vertrag mit einem der großen Pharmakonzerne hat das Gentech-Unternehmen bereits Anfang Februar unterzeichnet. Rund 200 Millionen US-Dollar sicherte der Schweizer Konzern Hoffmann-La Roche der isländischen Firma zu.

Die Zusammenarbeit sollte sich vor allem auf die Suche nach Genen für elf Volkskrankheiten konzentrieren, darunter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychiatrische Leiden und Stoffwechselstörungen. „Das größte je im Bereich der Humangenetik abgeschlossene Geschäft“ sei das, verkündete der isländische Ministerpräsident David Oddsson stolz. Die in Aussicht gestellten ausländische Investitionen vor Augen versprach er: „Die isländische Regierung wird ihr Bestes tun, damit das Kooperationsprojekt erfolgreich verlaufen wird.“ Eine der Voraussetzungen dafür ist, daß deCode einen Zugriff auf die gesamten Krankenakten der Isländer bekommt.

Die isländische Bevölkerung soll bei dem Deal nicht ganz leer ausgehen. Während Patente für Medikamente und Diagnostika, die mit Hilfe der gefundenen Gene entwickelt werden, Hoffman-La Roche zufallen und die Rechte an Gentherapien bei deCode verbleiben, sollen die Insulaner die neuen Medikamente umsonst erhalten.

Für sein Vorhaben konnte deCode die ehemalige isländische Präsidentin Vigdis Finnbogadóttir gewinnen. Zusammen mit drei Risikokapitalgebern und drei privaten Mitbesitzern sitzt die in Island beliebte Frau in einem Beirat des Gentech-Unternehmens. Zu der Kritik an der geplante Datenbank hat sie bisher geschwiegen. Unangenehme Fragen kommen aus dem Ausland: Ausgerechnet deCodes Sympathieträgerin sitzt bei der Unesco einem Komitee vor, das eine Deklaration über Ethik der Wissenschaften vorbereitet.

„Wir haben zwar mit der ersten Abstimmung im Parlament eine Schlacht verloren, aber die Auseinandersetzung ist noch lange nicht beendet“, meint Professor Sigmundur Gudbjarnarson. Der ehemalige Präsident der Universität von Island führt eine Gruppe von Medizinern und Forschern an, die sich vehement dagegen wehren, daß die Patientendaten und der Genpool einer ganzen Nation meistbietend verscherbelt werden. Für die unter dem Namen „Mannvernd – Isländer für Ethik in Medizin und Wissenschaft“ zusammengeschlossenen Kritiker verstößt das Vorhaben gegen nationale Gesetze und internationalen Vereinbarungen. So wurde mit dem im vergangenen Jahr verabschiedeten Gesetz über Patientenrechte festgelegt, daß der Kranke selbst bestimmen können muß, was mit seinen persönlichen Daten geschieht.

Nach der jetzt geplanten Lex deCode soll der Patient jedoch noch nicht einmal gefragt werden, ob sein behandelnder Arzt die Daten an die zentrale Datenbank weitergeben darf. Nur wenn er von sich aus die Initiative ergreift und dem Arzt die Weitergabe untersagt, kann er seine Erfassung verhindern. Gesetzlich überhaupt nicht vorgesehen ist, daß einmal eingespeiste Daten wieder gelöscht werden können.

Zahlreiche isländische Organisationen haben gegen das geplante Gesetz protestiert, unter anderem der isländische Ärzteverband, mehrere Forschungsinstitute und die Konsumentenorganisation des Landes. Selbst das Nationale Bioethik Komitee warnte vor dem Vorhaben. Sie sehen vor allem die Freiheit der Wissenschaft in Gefahr, wenn deCode das Monopol für die umfassendste Datenbank aller Zeiten erhält.

Bei deCode hingegen wird schon seit Monaten fleißig an der Datenbank gearbeitet. Mehrere Mitarbeiter speisen schon einmal die öffentlich zugänglichen Ahnenreihen ein. Anfang des Jahres gab Kári Stefánsson bekannt: „Derzeit haben wir schon 600.000 Namen von den 750.000 Isländern, die jemals gelebt haben, erfaßt.“ Genhunter plus, so der Name der Software, die die interessanten Gene herausfischen soll, ist auch schon entwickelt. Jetzt fehlen nur noch die Krankenakten.

Ob die Daten hinreichend anonymisiert werden können, wird von Experten in Zweifel gezogen. Wo jeder mit fast jedem verwandt ist, ließen sich die genetischen Informationen auch wieder zurückordnen, so die Befürchtung. Genährt wird die Kritik aus der Erfahrung von Datenschützern, die bei einem unangemeldeten Besuch bei deCode eine komplette Liste der Anonymen Alkoholiker entdeckten.

Eine erste Niederlage mußte deCode inzwischen hinnehmen. Die isländische Regierung wollte der Firma auch ein Monopol auf die kommerzielle Auswertung aller Bakterien einräumen, die in den heißen Quellen leben. Die Regierung hat jetzt erst einmal Abstand davon genommen.