Plünderung der Filmgeschichte

■ Der Ex-Bremer Johannes Kahrs zerschneidet halb zärtlich, halb nüchtern eine Damenhand in der GAK

Ein bißchen wie beim Wiener Aktionisten Brus, bei Flatz, Valie Export und den biblischen Märtyrern: Erkenntnisstreben geht den Weg des Schmerzes. Auf einem Video sieht man den in Bremen geborenen, in Berlin lebenden Johannes Kahrs mit einer stoppeligen Frisur, die ihn jederzeit zum Skin, aber auch zum Folteropfer qualifizieren würde. Mit einer Nüchternheit, mit der sich andere Leute die Zähne putzen, klebt er Augen, Mund, Nase, Ohren mit schwarzem Klebeband ab, um die Maskerade dann wieder abzureißen. Und immer steht zu befürchten, daß sich die Haut gleich mit verabschiedet. Die Ordnung der Wahrnehmungsapparatur gerät aus den Fugen: Auge, Mund, alles verschoben und funktionsuntüchtig wie auf einem der wüsteren Francis-Bacon-Bilder. Das Gesicht als Tor zur Seele, aber auch zur Außenwelt wird kenntlich in seiner Verletzlichkeit, dem Tarnungsbedürfnis, den Entblößungsschmerzen, der Auflösungsgefahr.

Ein Infozettel in der Gesellschaft für aktuelle Kunst (GAK) klärt über die ambivalente Funktion auf, die das Verdecken des Gesichts für den 33jährigen Maler/Bildhauer/Performancekünstler einnimmt. Teils garantiert das Wegtauchen und Verbergen die Integrität und Autonomie des Individuums gegenüber äußeren Einflüsterungen, teils wird es zu paranoidem Selbstschutz. Und der mutiert sehr schnell in Gewalt. Deshalb erinnert eine zweite Arbeit, eine Traube von etwa 40 Schweißerhelmen, an eine Mischung aus Punchingball und krebsartiger Zellwucherung. In den verspiegelten Sichtschlitzen sieht der Betrachter bestenfalls/schlimmstenfalls sich selbst. Was will uns der Künstler sagen: Sollen Schweißer in Zukunft keine Helme mehr tragen? Welche Form von Maskierung ist wie, wann, warum problematisch? Diese Skulptur läßt kalt. Erst über das Fleisch, das Mitgefühl fordert, werden Kahrs Arbeiten interessant; auch wenn er sich in einem Interview der taz Berlin sträubt wie die Jungfrau vorm Kind gegen Mitgefühl als ästhetische Kraft.

Ein Ölbild und eine Kohlezeichnung zeigen jedenfalls sedierte, allzu lange maskierte Figuren kurz vor der Explosion; mal handelt es sich um Kurt Raab, kurz bevor er als kleinbürgerlicher Außenseiter in Fassbinders „Warum läuft Herr R. Amok“ die Ehefrau killt, mal (nicht in der Ausstellung zu sehen) um Robert de Niro, kurz bevor er in Scorseses „Taxi driver“ – als kleinbürgerlicher Außenseiter – eine ganze Puffbelegschaft niedermetzelt. Pech für all jene Betrachter, die keine nette Galeristin zur Seite haben, die ihnen die Sache mit der Ruhe vor dem Sturm erklärten. Doch Kahrs tröstet all die Unbelehrten: „Ich entscheide mich für ein Bild, nicht für die Situation, die darauf abgebildet ist.“ Auch bei seinen früheren Nachempfindungen von Meisterfotos (etwa von Irving Penn), aber auch Schnappschüssen aus Zeitungen, eigenen Fotos und Film stills wird der Kontext nicht preisgegeben. Statt dessen wollen Texte von Guattari/Deleuze, Freud oder Hemingway die Bilder weiterdenken.

Noch mehr auf die Imagination setzt Kahrs in zwei anderen Arbeiten. Sätze wie: „eine stadt, weiß wie schnee“, ermöglichen es dem Betrachter, zu überprüfen, wie es um den Bilderhaushalt in seinem Kopf bestellt ist. Denkt er an Kitschfotos aus dem tui-Katalog, an A.Tanners Lissabon-Film oder an ein persönliches Erlebnis? Auch Hörcollagen aus Filmen laden zu Assoziationen ein. Eine zarte, perlenkettenschöne Wunde auf einer Damenhand erzieht zu einer stoischen Einstellung gegenüber Verletzungen. Hier läuft niemand Amok.

Stoisch-kontemplativ will auch die ganze Ausstellung gesehen werden. Dem Assoziationsgewitter der Videoclips setzt Kahrs ein angenehmes, feines Assoziationsnieseln entgegen. bk

Johannes Kahrs bis zum 31. Januar 1999 in der Gesellschaft für Aktuelle Kunst (GAK) in der Weserburg