Schnee in der Seele

Das Dilemma der Orientierungslosigkeit: Markus Seidel las aus seinem Roman „Umwege erhöhen die Ortskenntnis“  ■ Von Gerrit Bartels

Es sind große Worte, die die Dame vom Verlag bei Markus Seidels Lesung in einer Galerie im Seitenflügel der Kulturbrauerei da in den Mund nimmt. Von der „neuen deutschen Erzählkunst“ schwärmt sie, von der mutigen und tollen und „blühenden Literatur“, die ja eigentlich schon seit Jahren aus den Schreibstuben der Nachwuchsliteraten an die Öffentlichkeit dringe, und natürlich von einem Autor wie Markus Seidel, der unmittelbar in der Tradition eines Peter Handke stehe und zu dem nichts besser passe als das kürzlich in der Welt geprägte Bonmot vom „Fänger beim Joggen“.

Es sind zwar nicht mehr als zwanzig Leute da, die Markus Seidel aus seinem Roman „Umwege erhöhen die Ortskenntnis“ lesen sehen und hören wollen, doch immerhin paßt auch sein Buch bestens in die Aufbruchsstimmung, die den deutschen Literaturbetrieb erfaßt hat: Pop-Romane, wo man sitzt und liest, Debütromane von Mittzwanzigern, die in allen großen Feuilletons abgefeiert oder zumindest aufmerksam registriert werden.

Und wie Seidel da so sitzt in weißem T-Shirt, locker sitzendem grauem Anzug und Turnschuhen, könnte man in ihm gut einen weiteren Literatur-Popstar sehen, der es locker mit Smarties wie Benjamin von Stuckrad-Barre oder Christian Kracht aufnimmt. Mit dem nervenden Geschmacksterrorismus in deren Büchern hat aber zumindest Seidels Ich-Erzähler nicht viel zu tun, der streift vielmehr ziel- und ratlos durch das Berlin der späten Neunziger, sitzt in Bars und „sucht nach jemandem, der meine Seele rettet. Es regnet in mir drin, es stürmt und schneit, es ist ziemlich kalt, und ich suche in meiner Nacht nach einer kleinen Sonne.“

Das ist in der Tat traurig, dieser Mann ist sensibel und nach innen gekehrt, von Wut und Haß keine Spur, selbst jugendliche Reisegruppen in Latzanzügen und Birkenstöcklern sind da willkommen. Trotz täglicher Rituale, die ihm das Leben einigermaßen erträglich machen, kommt er bald an den Punkt, an dem er den Mief in seiner Wohnung und das ihn immer wieder anstarrende Keith-Haring- Poster an der immer gleichen weißen Wand nicht mehr aushält. So packt er seine Sachen und setzt sich in den Zug nach Wien, wo er früher mal eine gute Zeit verbracht hat. Daß auch da nicht unbedingt alles besser sein muß, weiß Seidels Held zwar, doch die Suche nach dem „tiefen, echten Gefühl“ scheint hier zumindest in Gestalt zweier Frauen, in die er sich verliebt, auf fruchtbaren Boden zu fallen.

Nicht gerade viel, was Seidel da zu erzählen hat, doch darum geht es auch nicht. Es geht um die Offenbarung von Lebensgefühlen, von diffusen Unzufriedenheiten, um das „Dilemma der Ziel- und Orientierungslosigkeit“, wie Seidel das nennt. Das ist in „Sommerhaus, später“ von Judith Hermann oder „Soloalbum“ von Benjamin von Stuckrad-Barre nicht anders, und irgendwie bekommt man den Eindruck, die Anfang der Neunziger vielbeschworene Generation X habe jetzt wenigstens eine Bestimmung gefunden: Bücher zu schreiben, in denen man das jahrelang gehegte Unbehagen an der eigenen Jugend und das „Nicht wissen, was tun“ wenigstens noch einmal artikulieren kann: Slackertum, das am Schreibtisch endet.

„Ich wollte was schreiben und war so froh, als ich endlich einen roten Faden gefunden hatte“, sagt Seidel dann auch unvermittelt im Anschluß an seine Lesung, spricht später aber davon, daß Schreiben schon immer „seine große Leidenschaft“ gewesen sei. Unbefangen, wie er ist, beantwortet er dann gewissenhaft auch wirklich jede Frage des Publikums („Kannst du auch was schreiben, was nicht autobiographisch ist? Was ist Kunst für dich?“), und wenn er dann sagt, „daß Christian Kracht und Salinger noch so viele Bücher schreiben können, meinen Stil habe ich jetzt gefunden“, weiß man, daß ihn das ganze Gerede von der tollen Gegenwartsliteratur in Zukunft alles andere als behindern wird.

Markus Seidel: „Umwege erhöhen die Ortskenntnis“. Rütten & Loening, 143 Seiten, 32 DM