Die Kunst, Flaschen zu öffnen

Vom Durchwurschteln in einer maroden Gesellschaft: Wladimir Schinkarjow von der Künstlergruppe Mitki erzählt vom Leningrad der frühen 80er  ■ Von Susanne Messmer

Es gibt Menschen, die vor allem ein Interesse haben: saufen. Sie saufen von früh bis spät, liegen den Rest des Tages herum, sind arbeitsscheu und führen ein Leben im Madendasein. Weil sie aber niemandem an den Kragen wollen und stets nett zueinander sind, gehen viele davon aus, daß solche Penner die letzten Menschen mit Herz, um nicht zu sagen die letzten Utopieträger auf dieser Welt sind: poor and pure. Charles Bukowski war so einer, aber auch Wladimir Schinkarjow gehört zu dieser Spezies.

Der 1954 geborene Petersburger Autor und Maler war Anfang der achtziger Jahre genau in dem Alter, um auf die Jahre der Stagnation und des unendlichen Wartens vor der Perestroika wie mit einem Festmahl auf die Pest reagieren zu können. So schrieb er 1981 sein Buch „Maxim und Fjodor“, das jetzt endlich ins Deutsche übersetzt worden ist. In diesem Buch ist die ganze Philosophie jener Petersburger Künstlergruppe enthalten, für die er dann drei Jahre später, als sie sich gründete, ein Manifest schreiben sollte – für einen losen Zusammenschluß von Malern und Autoren, einen chaotischer Haufen, der sich noch heute „Mitki“ nennt, frei nach dem Kosenamen seines Bandenführers Dimitri Schagin.

Die Mitki würden, so kann man sowohl in ihrer umfangreichen Homepage im Internet als auch im mit eigenen Erfahrungen sehr gesättigten Buch nachlesen, ihr letztes Hemd für einen Freund verschenken. Sie sind penetrant zärtlich zueinander, nennen sich „Brüderchen“ und „Schwesterchen“, umarmen sich permanent und würden dennoch nicht davor zurückschrecken, sich gegenseitig den Wodka zu mopsen. Sie stecken, sagen sie selbst, stets stiefeldick in der Scheiße, sind die ewigen Verlierer und werden deshalb die Welt erobern. Dabei ist ihnen ein einheitliches künstlerisches Ziel eher fremd.

Was sie aber besonders in den achtziger Jahren teilten, war ihr Lebenswandel. Weit davon entfernt, ihre Literatur oder Kunst veröffentlichen zu können, arbeiteten sie in Berufen, wo intensiver Alkoholgenuß eines der ungeschriebenen Gesetze im Arbeitsvertrag war – Wladimir Schinkarjow zum Beispiel war Kesselwärter. Die Kunst, in einer Schlange an einer Bierbude stundenlang anzustehen, gehörte zu ihren herausragenden Charaktereigenschaften: „Und im letzten Moment, kurz bevor sie dran waren, kauften sie kein Bier, sondern gingen weg, was sie allerdings merkliche Überwindung kostete.“ Begründung: „Auf daß die Schöpfung Ewigkeit erlange, darf man sie nicht vollenden.“

Auch wenn sich die Lage inzwischen geändert hat, Mitki internationale Erfolge zu verbuchen und also weniger Grund zu klagen haben: Wer etwas über das Leningrad der achtziger Jahre oder einfach nur über die unbändige Lust daran erfahren will, sich eskapistisch am Boden einer jeglichen maroden Gesellschaft durchzuwurschteln, der hat in „Maxim und Fjodor“ das schönste Buch gefunden. Und dabei passiert darin eigentlich gar nichts. Oder besser gesagt: Es passiert eine ganze Menge, das spielt aber gar keine Rolle. Maxim und Fjodor sind Freunde und wohnen zusammen, unterhalten sich und trinken – als Ausdruck „philosophischer Tollwut“ –, oder sie aalen sich genüßlich in ihrer Katerstimmung. Mal unternehmen sie eine Reise nach Japan, mal in einen Petersburger Vorort, einmal passiert sogar ein Mord in ihrer Wohnung. An ihrer Gemütslage, ihren Gesprächen ändert das aber nichts.

Das Muster ist immer gleich: Fjodor, der Ungebildete, erzählt Maxim etwas über seine neuesten geistigen Errungenschaften. Sei es marxistische Dialektik, Pantheismus, Zen-Buddhismus oder die Kunst, wie man eine Flasche öffnet: Kaum ist Fjodor mit seinen Ausführungen zu Ende, donnert ihm Maxim, der verkannte Philosoph, eine rein. In einem Gespräch zwischen ihren Schülern Pjotr und Wassili erfährt man später, warum. Maxim hält allen die Faust unter die Nase, weil er zeigen will, daß „jede Erscheinung, so vertraut sie uns auch sein mag, unsere Aufmerksamkeit unablässig fesseln sollte; denn alles kann sich verändern – und wir sind in unserem Dogmatismus gefangen“. Maxim ist, so sein Schüler Pjotr, „aus dieser Welt der unerträglichen Durchschnittlichkeit herausgetreten ... sozusagen durch die Hintertür“.

In Maxims und Fjodors tristem, immer gleichen, grauen, schäbigen Alltag ist das Äußerliche unwichtig geworden. Sie haben den Puritanismus auf den Gipfel getrieben und lassen in Anspielung auf ein Gedicht Anna Achmatowas aus dem Müll, der Sauferei, der Verelendung, die sie immer wieder nur mit einer an die Beatliteratur erinnernden Fäkalsprache kommentieren, Poesie entstehen. Nur ein einziges Mal spricht Maxim wirklich zu Fjodor, als dieser schläft: „Ich bin sanft und nostalgisch. Ich ertrage es nicht, meine abgewürgte Kindheit in tausend glitzernden Tannenbäumen zu sehen. Ich lehre dich zu sterben und nicht zu sterben wie der letzte Dreck, unter der Sichel.“ Danach weckt er seinen Freund.

Die Sprache, in der Schinkarjow in weiten Teilen aus diesem verschütteten Leben berichtet, ist wie gesprochen, vulgär und zerhackstückt. Ernste Ideen werden als Witze verkleidet, Witze ernsthaft diskutiert. In seinem Buch geht es um das große Nichts, aber auch in unkomfortabel barschen Anspielungen höchst sublim um alles: um die Angst vor Uniformen wie bei Gogol, um die Unfähigkeit, sich zu rühren wie bei Gontscharow, das Loblied auf die Sehnsucht nach Weite im allerkleinsten Raum wie bei Zwetajewa, die Hymne ans Idiotentum wie bei Dostojewski und die große Ode an den Alkohol als Abwehrhaltung wie bei Wenedikt Jerofejew. Das wirklich Nagelneue an diesem Buch aber ist, daß zugleich Emphase, hysterisches Mitleid mit den Figuren und eine ungeheure poetische Einbildungskraft darin enthalten sind: „Genau wie kürzlich erst schleppte sich Pjotr buchstäblich auf die Straße, in ein nostalgisches und fruchtloses Vergessen. Er setzte sich auf eine Bank, steckte die Hand in die Tasche und versenkte sie in Tabakkrümel, die sich dort angesammelt hatten. Es war, als steckte man die Hand in warmen Sand, nein, in warmes Meerwasser, wenn man noch ein bißchen benommen ist vom Baden.“

Es hat schon Journalisten gegeben, die den Mitki Traditionalismus, Konservatismus und Nostalgie vorgeworfen haben, zu viel russische Seele. Übers Internet berichtet der Gestalter ihrer Homepage, Egor Alekseev aus Michigan, die Mitki seien Mitglieder sowohl bei den Anonymen Alkoholikern als auch in der russisch- orthodoxen Kirche geworden, um über ihre Alkoholprobleme hinwegzukommen. Was andere ernst nehmen mögen: Wer „Maxim und Fjodor“ gelesen hat, der weiß, daß dieses Buch nichts als Lachkultur ist, absurdes Theater, Ironie, eine Parodie auf die Verfolgung westlicher Dekadenz im Rußland der Achtziger und auf die subkulturelle Hippiekultur gleichermaßen – eine Karikatur der edelsten Sorte, weil immer mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge.

Wladimir Schinkarjow: „Maxim und Fjodor“. Aus dem Russischen von Beate Rausch. Berlin Verlag, Berlin 1998, 160 Seiten, 36 DM