Vom Himmel ist nichts zu erwarten

Die eine Hälfte von San Ramón im Norden Nicaraguas hat der Wirbelsturm „Mitch“ mitgenommen. Die andere kann beim nächsten Unwetter verschwinden. Die Bewohner wollen Neuanfang, keinen Wiederaufbau  ■ Aus San Ramón/Esteli Toni Keppeler

Seit der Nacht zum 27. Oktober existiert von San Ramón nur noch die eine Hälfte. Die andere lag früher im Tal des Rio Esteli und ist heute eine Geröllhalde. Nichts deutet mehr darauf hin, daß hier Häuser standen, daß zwischen diesen Häusern Gärten und Maisfelder angelegt waren und daß weiter nördlich auf einer Tabakplantage der Stoff für edle Zigarren wuchs. Die Wassermassen, die vor sechs Wochen das Tal hinabschossen, haben alles mitgerissen.

So sieht fast jedes Tal im bergigen Norden Nicaraguas aus: Viele Häuser sind weggespült, die diesjährige Ernte und das Saatgut für die nächste vernichtet, und auf der Tabakplantage gibt es in absehbarer Zeit auch keine Arbeit. Niemand weiß, wie die nächsten Monate überstanden werden sollen.

Aber immerhin: Die höher gelegene Hälfte von San Ramón steht noch immer, rechts am Talhang. Die Straße in den Hauptort Pueblo Nuevo aber führt links am Fluß vorbei. Um von der einen Seite des Wassers zur anderen zu kommen, muß man über die größten Steine balancieren und bekommt doch immer nasse Füße. Vor dem Wirbelsturm „Mitch“ gab es eine Hängebrücke. Jetzt gibt es nicht einmal mehr einen Baum, an dem eine neue befestigt werden könnte.

Die Leute von San Ramón wollen auch gar keine Brücke. Sie wollen ein neues Dorf. Und das ist dann vielleicht doch etwas Besonderes. Niemand trauert dem Verschwundenen nach, kaum jemand fügt sich ins Schicksal. Es werden Pläne geschmiedet für einen Neuanfang, und es ist auch schon klar, wo der stattfinden soll.

Mais und Bohnen hat Mitch mitgenommen

„Hier kann das Dorf nicht bleiben“, sagt Rosibel Ramos. Als der Pegel des Rio Esteli wieder sank, hatte sich der Fluß einen anderen Weg ins Tal gesucht. Jetzt rauscht er gefährlich nahe am stehengebliebenen Ortsteil vorbei. „Beim nächsten Unwetter werden die Häuser dort auch weggespült.“

Das neue San Ramón soll auf der anderen Seite des Flusses entstehen, auf einem sicheren Hügel nahe der Straße nach Pueblo Nuevo. Dort ist Platz genug für hundert Häuser. In den Köpfen wird schon der Boden verteilt. Der gehört derzeit noch einem kleineren Grundbesitzer, der in den letzten Jahren aber keinerlei Interesse daran zeigte. „Man könnte verhandeln“, sagt Ramos.

Für die kleine und etwas bucklige Frau im abgewetzten blauen Synthetik-Kostüm wäre ein solches Geschäft nichts Neues. Zusammen mit einer Handvoll anderer Frauen treibt sie eine kleine Finca um, auf der neben den Grundnahrungsmitteln Mais und Bohnen auch organischer Kaffee angebaut wird. Mais und Bohnen hat „Mitch“ mitgenommen. Von der Kaffee-Ernte läßt sich wenigstens ein Teil retten. Rosibel Ramos hat ihr eigenes Auskommen und hat deshalb auch etwas zu sagen. Nicht nur zu Hause bei Mann und Kindern, sondern auch im Dorf.

Die Frauenkooperative, zu der sie gehört, ist ein Projekt von FEM, der „Fundación Entre Mujeres“ („Stiftung unter Frauen“), die seit vier Jahren mit dem Wuppertaler „Informationsbüro Nicaragua“ zusammenarbeitet. Rund 400 Frauen in den Provinzen Esteli und Segovia hat FEM organisiert. Rund 3.000 haben bislang an den Programmen der Stiftung teilgenommen. Neben den für Frauenorganisationen in der Dritten Welt üblichen Themen wie Alphabetisierung und Sexualaufklärung hat FEM etwas Besonderes: Den Aufkauf von Land für Frauenkooperativen. „Nur wenn wir wirtschaftlich selbständig sind, können wir auch gleichberechtigt sein“, sagt FEM- Koordinatorin Diana Martinez.

Martinez ist ehemalige Sandinistin. Jahrelang gehörte sie zu den Kadern der Landarbeitergewerkschaft ATC. Sie weiß deshalb, was Abhängigkeit bedeutet. Abhängigkeit von der Parteilinie und von Gewerkschaftsbossen, die genauso selbstherrlich wie korrupt sind. Sie hat die Schnauze voll davon. Daß sie von ihren alten Kollegen geschnitten wird, stört sie nicht. Es hat ihr nie die Laune verdorben. Nicht einmal „Mitch“ konnte der großen und drallen Frau die sprühende Lebensfreude nehmen.

Ramón Reyes, der kleine sandinistische Bürgermeister von Pueblo Nuevo, wirkt neben ihr noch schmächtiger, als er abends zur Sitzung des Notstandskomitees von FEM ins Stiftungslokal in der Provinzhauptstadt Esteli kommt. Er fühlt sich etwas unwohl unter so vielen Frauen und vor einem großen Plakat, auf dem in deutlichen Worten sexuelle Selbstbestimmung propagiert wird. Er kramt Papiere aus dem Aktenköfferchen auf seinem Schoß und verliest die offizielle Schadensbilanz der 22.000-Einwohner-Gemeinde, zu der auch das Dorf San Ramón gehört.

Entlang des Rio Esteli wurden auf einer Breite von 800 bis 1.200 Metern und einer Länge von 22 Kilometern fruchtbare Böden unter einer Geröllschicht begraben. 235 Häuser wurden völlig zerstört, 314 beschädigt. Sechs Brücken wurden fortgerissen, 186 Kilometer Straßen und Wege unpassierbar. Zwei Kinder sind ertrunken. 5.316 Menschen gelten als „Mitch“-geschädigt. 79 Prozent der Ernten wurden vernichtet. Den Gesamtschaden schätzt Reyes auf 230.000 Dollar.

Nach dem Unwetter wurden 26 Fälle von Cholera registriert. Zwei Menschen starben an Leptospirose. In der amtlichen Statistik in der Hauptstadt Managua aber tauchen die nicht auf. „Das Gesundheitsministerium spricht von gewöhnlichen Durchfällen“, sagt der Bürgermeister und glaubt das nicht. „Wir haben kubanische Ärzte angefordert. Zu denen haben wir mehr Vertrauen. Und sie bringen auch Medikamente mit.“ Im Gesundheitsposten von Pueblo Nuevo gibt es nicht einmal mehr Chlortabletten, um Trinkwasser aufzubereiten.

Und die Nothilfe der Regierung? 320 Lebensmittelpakete kamen an! Geld soll folgen. 85.000 Dollar hat der staatliche Sozialfonds für den Latrinenbau bewilligt. Weiteres Geld wurde für Straßenreparaturen in Aussicht gestellt. Der Bürgermeister will damit etwa 800 Leute beschäftigen und sie vorwiegend mit Lebensmitteln bezahlen. In den nächsten Monaten wird hier keiner ernten.

„Mindestens bis Ende Februar, Anfang März sind wir auf Lebensmittelspenden angewiesen“, sagt Reyes. Dann gibt es „vielleicht eine kleine Ernte“. Es gebe 300 Hektar bebaubaren Boden in den Bergen. Dort aber gibt es kein Wasser, und es fehlen noch Schläuche und Pumpen. Vom Himmel ist bis zum Mai nichts mehr zu erwarten. Nach den Fluten des „Mitch“ begann die Trockenzeit.

Unten im Tal, wo es Wasser gibt, weiß niemand, wo überhaupt einmal wieder geerntet werden kann. „Man bräuchte zunächst einmal eine Bodenanalyse, um zu wissen, welche Flächen endgültig verloren sind und wo es sinnvoll ist, sie wieder für die Landwirtschaft herzurichten“, sagt Reyes, und plötzlich wird alles ganz konkret. FEM hat Kontakte zu Spezialisten, sagt Martinez. „Wir könnten ein Büro und ein Auto samt Fahrer und Benzin zur Verfügung stellen“, sagt der Bürgermeister. Und Otmar Meyer, der Vor-Ort-Vertreter des Wuppertaler Infobüros nickt: „Ja, da ließe sich eine Finanzierung zusammenbringen.“

Und wenn man schon bei Projekten ist: Wie wäre es, wenn sich der Bürgermeister in die Verhandlungen um den Hügel für das neue San Ramón einschalten würde? Dann hätte das Ganze mehr Gewicht. Ja, sagt er, hilft er gern. Einen Entwurf für einfache, aber ausbaubare Standardhäuser hat Meyer schon. 2.300 Dollar kostet eines. Macht bei hundert Häusern 230.000 Dollar. Versprechen kann Meyer nichts. Das Infobüro kann FEM unterstützen, kann beim Aufkauf von Land für Frauenkooperativen helfen. Aber so ein Projekt geht über seine Verhältnisse. Viel mehr als Vermittlungsdienste sind nicht drin.

„Wir haben keinen Plan für so einen Notfall“

Die Sitzung mit dem Bürgermeister dauert noch keine Stunde, und schon weiß jeder, was zu tun ist. Nichts war vorher geplant. „Wir improvisieren immer“, sagt Reyes. „Wir können nichts vorhersehen. Wir haben keinen Plan für so einen Notfall.“ Aber das soll jetzt anders werden. Der Gemeinderat von Pueblo Nuevo hat beschlossen, daß ein Aufbaukomitee ins Leben gerufen werden muß. Nicht mit den üblichen Vertretern von Parteien und Institutionen, sondern aus Menschen, die das repräsentieren, was man auch in Nicaragua die „Zivilgesellschaft“ nennt. Natürlich ist FEM-Koordinatorin Diana Martinez willkommen, sagt der Bürgermeister. Mit Sitz und Stimme, versteht sich. Und er gibt gleich den Termin des ersten Treffens weiter.

Eifersüchteleien und alter Groll zwischen Noch-immer- und Nicht- mehr-Sandinisten spielen keine Rolle mehr. „Mitch“ hatte neben allem Schrecken auch eine läuternde Wirkung. „Das wollten wir schon immer“, sagt Meyer. „Daß die Zivilgesellschaft mehr Einfluß hat auf die konkreten politischen Entscheidungen vor Ort.“

San Ramón hat auf den ersten Blick nichts Besonderes. Es ist ein zerstörtes Dorf, so wie es derzeit viele zerstörte Dörfer in Honduras und im Nordwesten von Nicaragua gibt. Aber es gibt zumindest schon eine Vorstellung von einem neuen San Ramón. Und sie ist nicht auf den Reißbrettern internationaler Entwicklungsorganisationen entstanden und auch nicht in zentralen staatlichen Planungsbüros. Die haben sich noch gar nicht um San Ramón gekümmert. Es sind die Leute aus San Ramón selbst, die wissen, was sie wollen, und die den Weg dorthin auch suchen. Solche Vorstellungen und diesen Willen kann man nicht sehen. Aber sie sind schon etwas Besonderes.