Ist Werder Kultur?

■ Gegner umrennen, Ball einlochen, Freudengebrüll – auch vor hundert Jahren war Werders Ball rund. Ein vorauseilendes Prachtbuch zum Geburtstag des Sportvereins

Erstaunt blicken wir auf das arg verblichene Foto: Der Ball – dieser Eindruck drängt sich auf – war schon damals rund. Auch elf Freunde mußten es offenbar sein. Und einer, das ist auch heute (wieder) so, stand neben den leicht unseriös wirkenden Sportsmännern, blickte streng und hatte einen Stock in der Hand: Das war der Schleifer. Doch eines frappiert dermaßen, daß man denkt, es könne sich bei dem auf diesem Foto vorgestellten Sport nie und nimmer um Fußball handeln: die völlige und fast erschreckende Abwesenheit von Sponsorennamen auf den Trikots. Das historische Foto zeigt den Fußballverein FV Werder kurz nach der Gründung im Jahr 1899.

Der Verein SV Werder Bremen wird am 4. Februar 1999 hundert Jahre alt. Das Buch zum Jubelfest kann man schon jetzt unter dem Christbaum zu drapieren: Werder Bremen – hundert Jahre Sport im Rampenlicht wird herausgegeben vom Focke-Museums-Chef Jörn Christiansen, der verspricht, daß „nicht eine enggefaßte Vereinsgeschichte entstand, sondern ein umfassenderer Beitrag zur Stadt-Kulturgeschichte Bremens und“ – Donnerschlag! – „zur Kulturgeschichte der Freizeit“.

Nehmen wir also den ältesten existierenden Spielbericht von einem Werder-Spiel zur Kenntnis: Es gelang Kassenes, bei einem rasenden Lauf auf das feindliche Tor vier Gegner umzurennen und den Ball ins Tor zu befördern, welche Heldentat von uns ca. acht Werderanern, die mit ca. 10 Anhängern der Gegenpartei die gesamte Zuschauermasse bildeten, mit furchtbarem Freudengebrüll begrüßt wurde, während die Gegenseite mit unheildrohendem Schweigen abzog.

Spielregeln wurden noch jeweils vor dem Spiel von den Kapitänen ausdiskutiert. Üblicherweise spielte man 2-3-5, wobei „5“ die Anzahl der Stürmer beschreibt. Ein solches Spielsystem legt den Verdacht nahe, daß dem damaligen Fußballspiel die aus der Kriegsführung bekannte Idee vom überfallartigen Durchbrechen der feindlichen Linien zugrunde lag. Tatsächlich war Werder bis weit in die 20er für eine solche (sogar erfolgreiche) Strategie bekannt.

100 Jahre Werder – das sind 100 Jahre Sportfotografie. Da entdeckt man den ersten ordnungsgemäßen Fußballplatz in Huckelriede und die offenbar reichlich angeschickerten Stammspieler bei der Weihnachtsfeier 1911. 1917 muß es irgendwo einen Krieg gegeben haben, jedenfalls trägt der damalige Leistungsträger Joseph Lutter Uniform und bandagierten Arm. In den 30ern posiert die Gauligamannschaft an Bord eines Schiffes mit SS-Leuten, und 1944 und 1945 gab es die einzige Fußballpause in der Vereinsgeschichte (auf den dazugehörigen Fotos: Trümmer). Später dann Namen, die den Älteren unter den Lesern noch im Ohr klingen mögen: Höttges, Piontek, Zebrowski ...

1970 wird der ewige Dr. Franz Böhmert Präsident. Und endlich, ENDLICH 1975 die erste Trikotwerbung (Sponsor: Norda). 1980 Abstieg in die 2. Bundesliga. 1981 mit Rehhagel Wiederaufstieg. Im selben Jahr ein fieses Foto, das um die Welt ging: Der Werderaner Siegmann schlitzt bei einem Foul an Ewald Lienen dessen Oberschenkel auf eine Länge von 30 cm auf und legt den weißen Knochen bloß. Später die auch jüngeren Lesern noch geläufigen zahlreichen Meisterschaften, Beinahe-Meisterschaften und Pokale sowie die anschließende Dauermisere namens Aad-de-Mos-Dixie-Sidka.

Instruktiv und klug präsentiert sich der Textteil des Buches. Die Nazizeit wird nicht rasch übersprungen, wie man es bei einem Jubelbuch zum Geburtstag unbedingt erwartet hätte; im Gegenteil wird ausdrücklich über den auffällig vorauseilenden Gehorsam des SV Werder gegenüber den Nazis berichtet, zu einem Zeitpunkt, da die Sportvereine noch relativ frei waren. Und wen es interessiert, der darf Willi Lemkes güldene Worte über das Geld lesen oder alles über die sozialen Funktionen des Fußballclubs.

Wer nun denkt, es kämen erwartungsgemäß nur Männer in dem Buch vor, sei getröstet: Im SV sind ja auch zahllose Frauen, erfolgreiche Frauen zumal. Man findet zuhauf sie in den Abteilungen Tischtennis, Handball, Leichtathletik und Gymnastik, und es hieße die Wahrheit zu unterschlagen, verschwiege man, daß gerade dort die erfreulichsten Fotos des Werderbuchs entstanden. BuS

Nordwestdeutsche Verlagsgesellschaft, Bremerhaven 1998. 272 S., 300 Abb., DM 49,90.